Senioren aus Wohnanlage verdrängt

Von 111 Mietern blieb nur ein Dutzend in der Potsdamer Burgstraße

Von 111 Senioren leben in der Josephinen-Wohnanlage an der Potsdamer Burgstraße jetzt nur noch zwölf oder 15. Ganz genau weiß Rainer Radloff vom Mieterverein das nicht. Aber nach seiner Einschätzung waren die Kündigungen im November von der Form her rechtsunwirksam. Die alten Leute hätten dagegen nicht einmal Widerspruch einlegen müssen, sondern hätten einfach ausharren können – oder Klage einreichen. Aber wenn diese Menschen keine Rechtsschutzversicherung abgeschlossen haben und auch nicht im Mieterverein sind, dann scheuen sie einen Rechtsstreit. Auch den Angehörigen ist daran gelegen, die alten Eltern sicher untergebracht zu wissen. Sie wollen kein Risiko eingehen. Dafür hat Radloff Verständnis. So haben sich die meisten Bewohner inzwischen eine andere Bleibe gesucht.

Trotzdem hält Radloff am Montag noch einmal fest: »Ohne Kündigungsgrund kann kein Vermieter eine Wohnung kündigen.« Als Kündigungsgrund in Betracht gekommen wäre nur der Wunsch, die Immobilie gewinnbringender zu verwerten. Aber dieser Grund war in den Kündigungsscheiben nicht angeführt, und es fehlte auch das exakte Datum, zu dem die Senioren ausziehen sollten.

Radloff fragte extra in den Landesverbänden des Mieterbunds nach: Eine solche Massenkündigung von Senioren hat es sonst noch nicht gegeben. Das Beispiel könnte aber Schule machen. Es war der erklärte Plan der zu einem Klinikkonzern gehörenden Grundbesitzfirma, in dem Haus künftig möblierte Unterkünfte für Studenten anzubieten. Doch davon nahm die Firma einstweilen wieder Abstand, verhandelt jetzt mit der Stadt Potsdam über die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge, darunter vielleicht vorzugsweise Senioren. »Ich bin der Meinung, wir sind jetzt auf einem guten Weg«, sagt die Sozialbeigeordnete Brigitte Meier (SPD). Vielleicht könne nächste Woche der Vertrag unterzeichnet werden. Die Stadt werde da aber nur mitmachen, wenn die verbliebenen Senioren nicht auch noch ausziehen müssen.

Der Krieg in der Ukraine hat eine solche Verwertung der Immobilie überhaupt erst möglich gemacht. Nach Ansicht von Meier herrschte aber bei der Grundbesitzfirma Unkenntnis darüber, dass sie auch mit der Senioren-Wohnanlage höhere Mieten hätte kassieren können. Wenn die Rentner sich die Summen nicht mehr hätten leisten können, wäre der Staat mit Zuschüssen zu Hilfe gekommen.

Dass die Grundbesitzfirma jetzt mit ukrainischen Senioren mehr Rendite macht als mit den ursprünglichen Bewohnern, lasse sich nicht verhindern, bedauert Meier. Die Linksfraktion im Landtag hatte als Reaktion auf die Vorgänge an der Burgstraße die gesetzlichen Voraussetzungen für Enteignungen in Brandenburg ändern wollen. Statt nur für Infrastrukturmaßnahmen sollte auch für soziale Zwecke enteignet werden dürfen. Dafür fand Die Linke im Landtag aber keine Mehrheit. Die Angst müsse überwunden werden, die einige befällt, wenn sie das Wort Enteignung bloß hören, meint Rainer Radloff vom Mieterverein. In Bayern oder Thüringen hätte die Gesetzeslage die Enteignung hergegeben.

Dass die Burgstraße noch ein krasser Einzelfall war, aber nicht bleiben muss, davor warnt die Landtagsabgeordnete Insabelle Vandré (Linke): »Wir haben zu wenig Sozialwohnungen und zwar deutschlandweit. Das spitzt die Lage für Senioren noch einmal zu.«

Manfred Hildenbrand vom Potsdamer Seniorenbeirat berichtet, dass die Wartezeit für einen Platz im betreuten Wohnen der Arbeiterwohlfahrt im Stadtviertel Waldstadt II zehn Jahre beträgt. »Dieses Beispiel zeigt, wie groß der Bedarf ist.« Und die Zahl der Pflegebedürftigen steigt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal