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Berlin: Digitalexperiment am lebenden Reisenden
Am Flughafen BER testet die Deutsche Bahn eine virtuelle Fahrkartenberaterin
Kiana ist ein bisschen schwerhörig. Erst im dritten Anlauf versteht sie die Frage nach Zugverbindungen vom Flughafen BER zum Bahnhof Berlin-Lichtenberg. Dafür konnte man ihr die Frage auf Tschechisch stellen und sie antwortet auch auf Tschechisch. Irgendwann reagiert sie dann auch auf eine Nachfrage, wechselt aber unvermittelt ins Deutsche. Allerdings unverkennbar mit tschechischem Akzent.
Seit Mai nimmt die Deutsche Bahn Reisende am Flughafen BER mit in die geheimnisvolle Welt der sogenannten Künstlichen Intelligenz, eine Welt, die oft von großen Missverständnissen und rätselhaften Antworten geprägt ist. Kiana wird von der Deutschen Bahn als digitale Assistenz für Fahrplanauskünfte und den Kauf von Fahrkarten bezeichnet.
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Lara Croft in züchtig
Eine hohe, schlanke Säule mit großem Bildschirm, Mikrofon und Lautsprechern. Auf dem Bildschirm blinzelt einen Kiana an: Sie ähnelt der Videospielfigur Lara Croft – doch statt engem Tanktop und Waffen trägt Kiana eine weiße Bluse und weinrote DB-Jacke.
Die Säule steht etwas versteckt unter einer Treppe im trubeligen Bereich der Bahnsteigzugänge des Flughafenterminals. Ein hoher Geräuschpegel prägt den Raum: Rollkofferklappern, Gesprächsfetzen und viele andere Laute.
Praktisch permanent steht Ivo Kosse neben Diana. Das ist der Grund dafür, dass Kiana nur montags bis freitags zwischen 9 und 15 Uhr zur Verfügung steht. Denn der Bahn-Mitarbeiter ist quasi ihr Aufpasser. Da die Technik mäßig funktioniert, hilft er Interessierten bei der Bedienung. Vor allem muss er sie ermuntern, immer wieder das Wunschziel zu wiederholen, immer etwas lauter als zuvor.
Bessere Performance, mehr Sprachen
»Nein, ich laufe auch durch die Halle«, betont Kosse auf die Frage, ob er permanent neben der Kiana-Säule stehe. »Es ist auf jeden Fall schneller geworden bei den Klassikern«, berichtet er über die Entwicklung der Systemperformance bei Anfragen über die vergangenen Monate am BER. Er halte es auch für »sehr wichtig«, dass mit der Zeit weitere Sprachen dazugekommen sind, »weil viele internationale Kunden hier sind«.
Wenn man tatsächlich eine Fahrkarte kaufen will, muss man auf dem Touchscreen eine der drei angezeigten Verbindungen auswählen. Die Sprachsteuerung funktioniert währenddessen nicht. Ein Ticket bekommt man am Ende auch nicht. Stattdessen gibt es einen QR-Code. Scannt man ihn mit dem Handy, kann man seinen Fahrausweis schließlich über die Webseite der Bahn oder die App DB Navigator erwerben.
Die Worte von Carmen Maria Parrino beim Pressetermin am Donnerstag kontrastieren etwas zur Nutzererfahrung: »Wir wollen eine KI entwickeln, die unsere Kunden und Kundinnen dort unterstützt, wo sie es am meisten brauchen, nämlich an den Bahnsteigen, hier am Flughafen und da, wo ein Ticketkauf nötig ist«, so die Geschäftsführerin für Nahverkehr im DB Vertrieb. Im DB-Reisezentrum seien die Stoßzeiten und das Thema Sprache eine Herausforderung. Gerade am Flughafen spreche über die Hälfte der Kundschaft kein Deutsch. Immerhin neun Sprachen beherrscht Kiana.
Eher Dart spielen als Intelligenz
Und wo irgendetwas mit Innovation lauert, zumal in der nachrichtenarmen Saure-Gurken-Zeit, ist die Politik nicht weit. In diesem Fall Berlins Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU). Sie hat ein Zitat des verstorbenen britischen Physikers Stephen Hawking mitgebracht, demzufolge Künstliche Intelligenz das Beste oder das Schlimmste sein könne, das der Menschheit je passiert ist. Das ist vielleicht etwas hoch gegriffen angesichts dessen, was Kiana derzeit ist: umständlich und langsam.
Das System arbeitet mit einem Large-Language-Modell. Letztlich bedeutet das, dass es auf Basis eines riesigen Bergs an Beispielsätzen eine Wahrscheinlichkeit berechnet, was die menschliche Person eigentlich wissen will. Letztlich hat das etwas von Dart spielen, wo auch ein Profi häufiger mal das Ziel verfehlt.
Noch in ihrer Zeit als Chefin des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg vor anderthalb Jahren hat Bonde gesagt, dass sie Kiana in Berlin haben wolle. Was nicht verwundert, wenn man sich vor Augen führt, dass sie mit Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) lieber über Dinge »wie eine Teststrecke für Flugtaxis, Magnetschwebebahnen, Seilbahnen für neue Stadtquartiere und autonomes Fahren« spricht als über erhebliche Betriebsprobleme der Berliner S-Bahn wegen großer Mängel in der Infrastruktur.
Miteinander auch mit dem Flugzeug
Sie schafft es sogar, ihrem Mantra des »Miteinanders« im Verkehr, das sich in Berlin vor allem im brutalen Ausbremsen der Verkehrswende zeigt, eine neue Facette zu geben: »Und was ich so entscheidend finde, dass wir jetzt hier im Flughafen stehen, das ist eigentlich etwas, was nicht das Verkehrsmittel der DB ist. Flugverkehr ist nicht der Verkehr, den die DB eigentlich anbietet, sondern Schienenverkehr ist der Verkehr, den die DB anbietet. Aber wir sehen hier, es geht nicht um ein Nebeneinander, sondern es geht um ein Miteinander«, so Bonde.
Die Verkehrssenatorin brennt für Innovationen jenseits konkreter Bedarfe und Möglichkeiten. »Wo würden wir stehen, wenn nicht irgendjemand mal den Mut gehabt hätte, auch an Autos, Straßenbahnen oder Schieneninfrastruktur zu denken«, fragt sie und weiß auch gleich die Antwort: »Dann wären wir heute immer noch mit Kutschen unterwegs.« Insofern sei es »ganz, ganz wichtig, dass wir uns auf diesen Weg machen, dass wir uns auf den Weg der KI machen und neue Formate einbringen«.
Von Susan Sontag zur Fahrkarte
Distanzierter zeigt sich Brandenburgs Verkehrsminister Detlef Tabbert (BSW). Auch er hat ein Zitat mitgebracht – von der verstorbenen US-amerikanischen Autorin, Kulturkritikerin und Regisseurin Susan Sontag: »Ich war nicht überall bisher auf Reisen, aber auf meiner Liste stehen viele Orte.« Für die Allgemeinheit heiße das, die Liste der Reiseziele, die sich Menschen vornehmen, sei beinahe unendlich, erläutert er.
Er muss dann noch weiter ausholen, um zu erläutern, dass eben Informationen zu Verbindungen und Fahrkartenpreisen für Reisende wichtig seien, um zu erklären: »Und da bin ich mir sicher, die Deutsche Bahn hat hier mit dem Start von Kiana einen weiteren Schritt nach vorne gemacht.« Tabberts gewisse Ratlosigkeit angesichts des Termins ist mit Händen greifbar. Noch verstärkt durch ein heiter-ironisches Zucken, das seine Augenlider umspielt, als andere sprechen.
»Ich möchte keine Prognose abgeben, wann das Produkt so weit reif ist, als dass wir es bundesweit ausrollen könnten. Die Hürden dazu sind an unterschiedlichen Stellen schon gar nicht so klein«, räumt DB-Vertriebschefin Carmen Maria Parrino ein und betont immer wieder, dass es sich um ein Pilotprojekt handelt. Kiana sei ein Test, um außerhalb des Labors festzustellen, was in der Realität nicht funktioniert und was angepasst werden müsste.
Rund tausend Dialoge gab es seit Mai. Fünf bis zehn Prozent mündeten in einen Fahrkartenkauf. Also nicht mal einer pro Tag.
Eine ernsthafte Entlastung des Reisezentrums, an dem immerhin zwei von vier Schaltern besetzt sind, scheint Kiana bisher nicht zu sein. Rund tausend Dialoge habe es seit Aufstellung im Mai gegeben, verrät Parrino. Etwa fünf bis zehn Prozent dieser Dialoge mündeten in einen Fahrkartenkauf. Also nicht einmal einer pro Tag. Noch bis Mitte Oktober kann das digitale Spielzeug am Flughafen BER getestet werden.
Es ist nicht der erste Versuch der DB, KI-Assistent*innen auf die Kundschaft loszulassen. 2019 wurde »Semmi« im Reisezentrum des Berliner Hauptbahnhofs aufgestellt. Der Kopf einer Schaufensterpuppe, auf den ein Gesicht projiziert worden war, eingefasst von einer schwarzen muschelartigen Schale. Bereits der Pressetermin geriet zum Desaster – auch hier wurden die Fragen oft nicht verstanden.
Kurz nach dem Pressetermin am Donnerstag gerät der S-Bahnverkehr am BER komplett aus dem Tritt. Grund ist ein Feuerwehreinsatz wegen Rauchentwicklung an einer S-Bahn zwischen Altglienicke und Adlershof: Eine Bremse hatte sich festgefahren. Das internationale Flughafenpublikum wird mit Ansagen informiert – allesamt auf Deutsch. Eine automatische Übersetzung könnte hier echten Mehrwert für die ratlosen Reisenden generieren. Aber das ist ja ein anderer Geschäftsbereich der DB.
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