Bitte nicht einer Meinung sein

Zum Tod des Berliner Soziologen Boike Rehbein

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 3 Min.

»Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.« Bei diesem berühmten Satz von Walter Benjamin hätte Boike Rehbein wohl geschmunzelt, wie er es häufiger tat – mit einer Mischung aus Zustimmung, Ironie und einem kleinen Anflug von Resignation. Von Berufs wegen war der Berliner Soziologe immer wieder mit politischer Hoffnungslosigkeit – oder wissenschaftlicher ausgerückt: Unwahrscheinlichkeit – konfrontiert, beschäftigte er sich doch schwerpunktmäßig mit sozialer Ungleichheit und der Frage, wie Kapitalismus und Klassenverhältnisse unser Leben nahezu vollumfänglich bestimmen und keine Veränderung zulassen. Und doch hätte Rehbein auf Nachfrage im Gespräch bestimmt einen kleinen Rest an Hoffnung eingestanden. Das geht nun nicht mehr. Boike Rehbein starb nach Mitteilung der Humboldt-Universität zu Berlin völlig unerwartet am 11. Juni im Alter von nur 57 Jahren.

Rehbein wurde 1965 in Westberlin geboren, als Sohn des Linguisten Jochen Rehbein und Enkel des Kinderchirurgen Fritz Rehbein. Er studierte Philosophie, Soziologie und Geschichte. Bereits mit seiner Dissertation von 1996, in der er sich am Beispiel der Volksrepublik Laos mit der Frage beschäftigte, was es heißt, andere Menschen zu verstehen, wurde klar, dass es sich bei ihm keineswegs um einen gewöhnlichen Wissenschaftler handelte. Im Vorwort schrieb er über seine Arbeit, sie erscheine ihm als »unangepasst an den eingefahrenen Betrieb«. Daher sei ihm auch jegliche »inhaltliche oder materielle Förderung« verwehrt worden. Diese Sätze waren mehr als Pose. Zwar wurde er 2009 an der HU Berlin Professor für Gesellschaft und Transformation in Asien und Afrika, doch blieb er stets auf Abstand zum herrschenden Wissenschaftsbetrieb.

Diesen Standpunkt teilte Rehbein mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu, der ihn stark beeinflusste. Er befasste sich zunächst mit der Auswirkungen der Globalisierung am Beispiel von Südostasien. Er hatte mehrere Gastprofessuren, unter anderem in Bangkok, Buenos Aires, Neu-Delhi und auch in Vientiane, wo er maßgeblich am Aufbau der sozialwissenschaftlichen Fakultät beteiligt war. Das war ein gelebter Internationalismus in Forschung und Lehre. Seine Bemühungen, Forscher*innen aus aller Welt zusammenzubringen und damit globale Perspektiven auf Ungleichheit zu entwickeln, verdienen in dieser Form unbedingt fortgesetzt zu werden. Enttäuscht war er immer dann, wenn alle einer Meinung waren.

Er entwickelte seine Erkenntnisse nicht am Schreibtisch, sondern in (gesellschaftlicher) Praxis. Zusammen mit seinen Mitarbeiter*innen führte er weltweit mehrere Tausend Interviews und machte Feldforschungen auf allen Kontinenten. Es war frappierend festzustellen, dass sich die Armut auch im mangelnden Selbstbewusstsein der Menschen zeigte. Wenn die Unterschichten vom Rest der Gesellschaft als »Müll« bezeichnet werden, dann wird er von diesen auch als Selbstbeschreibung angenommen. Dieser Begriff tauchte immer wieder in den Interviews auf – sowohl bei Gesprächen mit Wohnungslosen in Deutschland als auch mit Menschen in Brasilien und in Südostasien.

Hier wollte Rehbein ansetzen und gründete mit Jessé Souza, einem der bedeutendsten Soziologen Brasiliens eine Online-Schule als niederschwelliges und kostengünstiges Bildungsangebot für bedürftige Menschen. Eine weitere Schule soll in Indien entstehen. Die Frage, wie Gesellschaftskritik zu den Menschen kommen kann, die es am meisten brauchen, müssen nun andere beantworten. Rehbeins unkonventionelle und freundliche Art und sein kluger Geist werden dabei fehlen.

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