Tücken der Wasserstoffwirtschaft

Bei der Effizienz ist ein stromgebundenes System überlegen. In Chemie und Metallurgie kann das Gas nützlich sein

  • Ulf Bossel
  • Lesedauer: 9 Min.
Die Energiebilanz der Umwandlungen im Vergleich
Die Energiebilanz der Umwandlungen im Vergleich

Nur aus erneuerbaren Quellen kann sich die Menschheit dauerhaft klimaneutral mit Energie versorgen. Die aus Wind, Sonne, Wasser und Wellen geerntete Energie steht allen Sektoren der Energienutzung in hochwertigster Form als elektrischer Strom zur Verfügung. Für den Transport des grünen Primärstroms von der Quelle zum Energieverbraucher gibt es jedoch mehrere Wege mit unterschiedlichen Energiebilanzen. Zur Verwirklichung der Energie- und Klimawende muss deshalb zuerst die Frage beantwortet werden: »Wie kann mit einer Kilowattstunde grünem Primärstrom am meisten Nutzen im Endbereich generiert werden?«

Man muss also Energiewandlungsketten miteinander vergleichen, denn die Nutzungssektoren werden über unterschiedliche Wege mit Energie versorgt. Die spezifischen Energieverluste oder Wirkungsgrade der einzelnen Wandlungsschritte sind hinreichend gut bekannt. Man kann für jede dieser Übertragungsketten die Gesamtenergiebilanz »von der Wiege bis zur Bahre« erfassen und das zukünftige Energiesystem gezielt für eine möglichst hohe Gesamteffizienz optimieren. Leider sind die Energiebilanzen der Wasserstoffnutzung noch nicht Teil der öffentlichen Diskussion. Wasserstoff ist nicht einfach eines von vielen Gasen, sondern das leichteste mit speziellen Eigenschaften. Für alle physikalischen Wandlungsschritte wird wesentlich mehr Energie benötigt als bei Erdgas. Wasserstoff ist deshalb für die Gestaltung der Energiewende ein unbequemer Energieträger.

Die Wasserstoffversorgung beginnt mit der Beschaffung und Destillation des Wassers (9 Liter pro kg H2) für die Elektrolyse. Der erzeugte Wasserstoff muss dann komprimiert (oder verflüssigt), verteilt, gespeichert und umgefüllt werden. Dann wird er mit Brennstoffzellen wieder in Strom verwandelt oder in Kesseln verbrannt. Alle Wandlungsschritte vom grünen Primärstrom zum Sekundärstrom hinter der Brennstoffzelle brauchen Energie und sind deshalb mit Verlusten verbunden.

Die umfassende Analyse der Energiebilanz einer Wasserstoffwirtschaft verdeutlicht, dass Wasserstoff ein für die Energiewende ungeeigneter Energieträger ist, denn mit grünem Strom und dem bestehenden Stromnetz lässt sich der Endbereich ebenso umweltneutral, aber wesentlich effizienter und kostengünstiger mit sauberer Energie versorgen.

Beispiel 1: Nachhaltige Wärmeerzeugung

Eine grüne Kilowattstunde (kWh) kann über bestehende Leitungsnetze mit geringen Verlusten verteilt und direkt in eine kWh Heizwärme umgewandelt werden. Man kann mit der Kilowattstunde auch eine Wärmepumpe betreiben und erhält dann etwa drei kWh Wärme. Mit dem grünen Primärstrom lässt sich aber auch Wasser elektrolytisch spalten. Der so erzeugte Wasserstoff kann im Gasnetz verteilt und in Heizkesseln verbrannt werden. Auch in diesem Fall müssen alle zuvor genannten Wandlungsschritte mit grünem Primärstrom energetisch bedient werden. Der Vergleich der drei Optionen ist signifikant. Eine grüne Kilowattstunde liefert mit Wärmepumpe drei kWh, mit einem elektrischen Heizkörper eine kWh, mit Wasserstoff jedoch nur ein Drittel davon als nutzbare Heizwärme. Die Ausbeute für die Heizwärme stünde also 9 zu 3 zu 1. Es ergibt also keinen Sinn, aus grünem Primärstrom Wasserstoff zu erzeugen, um ihn ins bestehende Erdgasnetz einzuspeisen und dann in Heizkesseln zu verbrennen. Die mit grünem Strom betriebene elektrische Wärmepumpe ist der klare Sieger für eine nachhaltige Wärmeerzeugung.

Beispiel 2: Nachhaltige Mobilität

Auch auf Straße und Schiene stellt sich die Frage, ob man die grüne Kilowattstunde direkt in Fahrzeugbatterien lädt oder zur Erzeugung von Wasserstoff verwendet, den man zum Antrieb von Brennstoffzellenfahrzeugen nutzt. Die Lieferkette unterscheidet sich geringfügig von der Wasserstoffverteilung als Brenngas. Der bei mittlerem Druck über Rohrleitungen oder Tanklastwagen verteilte Wasserstoff muss an der Tankstelle zum Befüllen der Fahrzeugtanks noch einmal auf 900 bar verdichtet werden. Im Gegensatz zur Batterieladung am Straßenrand wird auch Strom für den Betrieb der bemannten Tankstellen benötigt. Nur 40 Prozent der bis zum Füllstutzen eingesetzten Energie kommt bei der Brennstoffzelle an. Diese kann jedoch im Mittel höchstens 50 Prozent in Strom für die Antriebsmotoren umwandeln. Der Gesamtwirkungsgrad der Wasserstoffkette liegt bei etwa 20 Prozent. Vom grünen Primärstrom sind bei einem Batteriefahrzeug etwa 80 Prozent für den Fahrzeugantrieb nutzbar. Auch kann Bremsenergie zurückgewonnen werden. Der Systemwirkungsgrad liegt deshalb bei 85 Prozent. Mit dem grünen Strom, der für den Betrieb eines Wasserstoff-Brennstoffzellen-Fahrzeugs benötigt wird, können also mindestens vier gleichwertige Fahrzeuge mit Batterie betrieben werden. Einziger Vorteil des Wasserstoffs derzeit: Das Fahrzeug ist schneller mit Wasserstoff betankt als mit Strom geladen. Damit allein wird Wasserstoff keine nachhaltige Zukunft für den Verkehrsbereich bieten. Die hohen Energieverluste und die enormen Investitionskosten verhindern, dass sich Wasserstoff gegenüber grünem Strom auf der Straße behaupten kann. Eindeutiger Sieger ist auch hier der elektrische Weg.

Für den interkontinentalen Verkehr zu Luft und zu Wasser wird man jedoch fossile oder synthetische Treibstoffe einsetzen müssen, denn die für Wasserstoff benötigten Tankvolumen lassen sich kaum in Langstreckenflugzeugen unterbringen. Umso wichtiger ist die schnelle Umstellung des Straßenverkehrs auf grünen Strom.

Beispiel 3: Wasserstoff in Gaskraftwerken

Auch soll grüner Wasserstoff eine CO2-freie Stromerzeugung in Gaskraftwerken sichern. Für die Wasserstofflieferung bis zum Gasbrenner gelten die im Beispiel 1 genannten Wirkungsgrade. Dann folgt jedoch noch der Wirkungsgrad der Gasturbine, der hier mit 50 Prozent angesetzt wird. Von der grünen Primärenergie, die als Wasserstoff verteilt und in einem Gaskraftwerk wieder in Strom verwandelt wird, bleiben also nur noch etwa 20 Prozent als nutzbarer Sekundärstrom. Für eine Energieverteilung mit Wasserstoff müssen deshalb viermal mehr Wind- oder Solarkraftanlagen errichtet werden als für eine direkte Stromversorgung über bestehende Netze. Auch hier ist die direkte Nutzung des grünen Stroms eindeutiger Sieger.

Beispiel 4: Synthetische Kraftstoffe

Mit grünem Wasserstoff lassen sich synthetische Brennstoffe herstellen. Der benötigte Kohlenstoff (CO2) stammt aus Abgasen oder aus der Atmosphäre. In beiden Fällen wird CO2 nicht beseitigt, sondern lediglich unter neuem Label rezykliert. Diese auch als »Power-to-Gas« oder »Power-to-Liquid« bekannten Verfahren sind jedoch sehr energieintensiv. Zu den bereits bei der Wasserstofferzeugung entstandenen Energieverlusten kommt der Energiebedarf für die CO2-Abscheidung hinzu. Der Gesamtwirkungsgrad für die Herstellung synthetischer Kraftstoffe liegt unter 15 Prozent. Beim Einsatz dieser grünen Kraftstoffe in Verbrennungsmotoren gehen zwischen Vergaser und Antriebsrad noch einmal 70 Prozent verloren. Auf die Straße gebracht werden deutlich weniger als 10 Prozent der grünen Primärenergie. Bei elektrischem Antrieb wären es etwa 85 Prozent. Mit dem grünen Primärstrom, der für den Betrieb eines Verbrenners mit synthetisch hergestellten »grünen« Kraftstoffen benötigt wird, könnte man also etwa neun gleichwertige Batteriefahrzeuge mit Strom versorgen. Auch hier ist der elektrische Weg der klare Sieger.

Beispiel 5: Chemische Anwendungen

Bei allen chemischen Prozessen, die heute mit fossilen Brennstoffen oder dem daraus gewonnenem Wasserstoff durchgeführt werden, kann grüner Wasserstoff den CO2-Ausstoss stark vermindern. Energie wird vor allem für die Beheizung der Reaktoren eingesetzt. In einigen Fällen wird der Brennstoff auch für den eigentlichen chemischen Prozess benötigt. Fossile Energieträger wie Koks, Erdgas oder Erdöl haben in Hochöfen und Chemiereaktoren neben der thermischen oft auch eine chemische Funktion. Die heute eingesetzten fossilen Brennstoffe müssen also nicht immer und nicht vollständig durch Wasserstoff ersetzt werden. Als nachhaltige Lösung bietet sich eine Trennung von Aufheizung und Reaktionschemie an. Mit grünem Strom wird geheizt, mit grünem Wasserstoff wird reduziert. In diesem Fall wird grüner Strom sinnvoll thermisch genutzt und Wasserstoff lediglich zur chemischen Reaktion verwendet. Wieder ist die elektrische Beheizung mit grünem Strom besser als die einfache Substitution der für den Gesamtprozess eingesetzten fossilen Energieträger durch Wasserstoff. Man könnte weitere Beispiele zitieren. Alle haben eins gemeinsam: Grüner Wasserstoff macht nur Sinn, wenn er in chemischen Reduktionsprozessen kohlenstoffhaltige Energieträger ersetzt.

Beispiel 6: Energiespeicherung

Die Speicherung von Sommerstrom für die Wintermonate ist eine bisher ungelöste Aufgabe. Es wird ernsthaft diskutiert, ob die Energie in Form von Wasserstoff gespeichert werden kann. Aber auch in diesem Fall können selbst bei effizienter Rückwandlung mit Brennstoffzellen vom grünen Primärstrom nur etwa 20 Prozent dem Endverbrauch zugeführt werden. Wegen der geringen volumetrischen Energiedichte von Wasserstoff werden entweder massive Hochdrucktanks oder riesige unterirdische Kavernen für Niederdruck-Speicher benötigt. Auch synthetisch hergestellte Flüssigkeiten oder Gase sind im Gespräch. Doch wie gezeigt, sinkt bei diesen Stoffen der Gesamtwirkungsgrad weiter auf unter 10 Prozent. Zurzeit wird über viele Möglichkeiten nachgedacht. Wirtschaftliche Lösungen sind noch keine in Sicht. Deshalb sollte zuerst der Energiebedarf im Winter durch technische und organisatorische Maßnahmen drastisch gesenkt werden, damit eine saisonale Speicherung der im Sommer geernteten Sonnenenergie überhaupt machbar wird.

Die Energiewende wird in eine »Elektronenwirtschaft« münden. Mit diesem Begriff wird der umfassendere Einsatz von grünem Strom beschrieben, dessen Ursprung Sonnenenergie ist, die dezentral direkt oder indirekt mit Photovoltaik-, Wind- oder Wasserkraftanlagen geerntet wird. Elektronenwirtschaft ist nicht gleichzusetzen mit »Elektrizitätswirtschaft«. Die Schaffung einer Elektronenwirtschaft ist aus energetischer und wirtschaftlicher Sicht weit sinnvoller als der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft. Zum Aufbau einer flächendeckenden H2-Infrastruktur müssten in den kommenden Jahren riesige Investitionen getätigt werden, die es eigentlich überhaupt nicht braucht, um das Klima zu retten. Denn die elektrische Grundversorgung für eine Elektronenwirtschaft existiert bereits und muss nur ergänzt oder ertüchtigt werden. Notwendig ist jedoch eine rationellere Stromnutzung im Endbereich. So führt beispielsweise der einfache Austausch von Heizkesseln durch elektrische Wärmepumpen gleicher Heizleistung zu einem Strommangel im Winter. Sinnvoller ist es, Gebäude zuerst energetisch zu sanieren, damit ein großer Ölkessel durch eine kleine Luft-Luft-Wärmepumpe ersetzt werden kann. Solche organisatorische Maßnahmen müssen vom Gesetzgeber geregelt werden.

Zukunft gestalten statt Vergangenheit verwalten

Die Energietechnik ist schon immer dem Energieangebot gefolgt. Kohle führte zur Dampfmaschine, Erdöl zum Verbrennungsmotor und Erdgas zu Gasheizungen. Mit der Verbannung der fossilen Brennstoffe beginnt ein neues Energiezeitalter für den Einsatz von grünem Strom. Es ergibt wenig Sinn, die endende fossile Periode durch künstliche Kohlenwasserstoffe zu verlängern, denn Energie aus erneuerbaren Quellen wird schon bald die kostengünstigste sein und ohne Belastung der Umwelt nachhaltig fließen. Technik und Organisation der Energieschiene müssen an die nachhaltigen Energiequellen angepasst werden. Warum sollte das bestehende System mit synthetischen Kraftstoffen gerettet werden, wenn grüner Strom heute bereits günstiger ist als Strom aus thermischen Kraftwerken? Wir sollten den Mut haben, die Zukunft zu gestalten und nicht die Vergangenheit zu verlängern.

Ulf Bossel ist Maschinenbauingenieur und Berater für nachhaltige Energielösungen. Er war Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie und leitete mehrere Jahre die weltweiten Brennstoffzellenaktivitäten eines großen Schweizer Unternehmens.

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