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Die Siegesgläubigen unter Beschuss

Obwohl Russland Geländegewinne verzeichnet, ist der Optimismus der Ukrainer auf einen positiven Kriegsverlauf unerschütterlich

  • Denis Trubetskoy
  • Lesedauer: 7 Min.

Als die Wirtschaftsstudentin Dana Lawrenjuk vor einigen Tagen ihren Universitätsabschluss in Kiew feierte, hatte sie gemischte Gefühle. »Ich freute mich natürlich, dass es trotz allem kleine Feierlichkeiten gegeben hat, auch wenn wir nicht in einer Bar bis in die Nacht wegen der Ausgangssperre feiern konnten.« Die gegenwärtige Situation findet sie manchmal geradezu surreal. »Der große Krieg dauert ja nun schon seit mehr als 130 Tagen an, und ich habe mich irgendwie darauf eingestellt. Aber auf Luftalarm während meiner offiziellen Abschlussfeier hätte ich dennoch gerne verzichtet. Da hasst man die russischen Angreifer noch mehr als ohnehin schon.«

Dennoch blickt Lawrenjuk optimistisch auf die Zukunft der Ukraine und ist damit beileibe keine Außenseiterin. Obwohl es eine verbreitete Kriegsmüdigkeit gibt und die Gefahr von russischen Angriffen in vielen Landesteilen allgegenwärtig ist, herrscht der Glaube an einen siegreichen Ausgang der Konfrontation mit dem großen Nachbarn. Mehr als 90 Prozent der Ukrainer glauben mehreren Umfragen zufolge an einen Sieg gegen Russland. Und über 80 Prozent der Befragten schließen territoriale Zugeständnisse an Moskau kategorisch aus, was allerdings nicht automatisch eine militärische Rückeroberung aller besetzten Gebiete bedeutet. Und eine jüngst veröffentlichte Umfrage des Kiewer internationalen Soziologie-Instituts zeigt, dass trotz des russischen Angriffskriegs jeder Zweite eine optimistische Zukunft für die Ukraine sieht. Im Dezember 2021 – also noch vor dem russischen Überfall – lag dieser Wert bei lediglich neun Prozent. Die Not hat offenbar den Glauben an die Nation gestärkt.

Auch in Kiew macht sich dies bemerkbar. Obwohl es häufig Luftalarm und gelegentliche Raketenbeschüsse gibt, sind viele Menschen, die nach dem Kriegsausbruch geflohen waren, wieder in die Stadt zurückgekehrt. Bis auf McDonald‹s haben fast alle Cafés und Restaurants geöffnet. Der Rückgang des Autoverkehrs hat dagegen vor allem mit der aktuellen Benzinkrise zu tun. »Es ist unser Zeichen an Wladimir Putin und den Kreml: Wir leben trotz allem weiter, ihr könnt uns nicht einschüchtern«, sagt Danylo Skrypa, der als Manager in einem georgischen Restaurant arbeitet.

Inmitten des wieder eingekehrten Alltags in der Hauptstadt ist aber nicht zu übersehen, dass die Ukraine sich bei der Verteidigung des Landes seit vielen Monaten in einem Abnutzungskrieg befindet, der an den Fronten durchaus unterschiedlich verläuft. Während die ukrainische Armee neulich mit Sewerodonezk und Lyssytschansk die letzten bedeutenden Städte der Region Luhansk verlassen musste, haben sich dagegen die Russen wegen des schweren Artilleriefeuers der Ukrainer von der strategisch wichtigen Schlangeninsel im Schwarzen Meer zurückgezogen. Dort wurde die ukrainische Flagge wieder gehisst. Auch in den größtenteils besetzten südlichen Bezirken Cherson und Saporischschja gibt es kleine, allerdings bislang noch wenig erfolgreiche ukrainische Gegenoffensiven.

Und natürlich erschüttern Tragödien wie die Zerstörung eines Einkaufszentrums in Krementschuk durch eine alte und unpräzise russische Ch-22-Rakete mit mehr als 20 Toten die Menschen in Kiew. Mit einer solchen Rakete wurde auch ein Wohngebäude im Bezirk Odessa zerstört; dort gab es ebenfalls mehr als 20 Opfer.

Die Ukraine hat Luhansk zwar weitestgehend aufgegeben, sie konnte aber immerhin in Sewerodonezk und Lyssytschansk größere Umzingelungen verhindern. Es hätte noch schlimmer kommen können. Wenngleich die Verluste auf ukrainischer Seite trotzdem enorm waren. Vor einigen Wochen war von 100 bis 200 Toten pro Tag die Rede. Aber auch die Russen hatten bei den Kämpfen zuletzt viele gefallene Soldaten zu verzeichnen.

Natürlich gebe es aufgrund der Niederlagen im Osten und Süden des Landes »gemischte Gefühle«, erklärt der bekannte ukrainische Politologe Wolodymyr Fessenko. Und wegen der anhaltenden Kampfhandlungen beobachtet er »eine gewisse Gewöhnung an den Krieg«. Der Beschuss von zivilen Zielen wie in Krementschuk bestärke die Gesellschaft aber nur in der Meinung, dass die Fortsetzung des Kampfes notwendig sei. »Das ist das Gegenteil von dem, was die Russen damit erreichen wollen.«

Jedoch glaubt Fessenko, der das Penta-Zentrum für die angewandte politische Forschung in Kiew leitet und Präsident Wolodymyr Selenskyj nahesteht, dass viele Ukrainer noch nicht ganz realisiert haben, dass der Krieg wohl noch lange dauern wird. »Es gibt Menschen, die an das Kriegsende in zwei, drei Monaten glauben. Das ist im Moment wenig realistisch«, meint er. »Die Offiziellen sprechen meist vom Jahresende, bis dahin könnte zwar die aktive Phase vorbei sein, der Positionskrieg jedoch vermutlich nicht.«

Ljudmyla Subryzka, Politikwissenschaftlerin an der renommierten Kiew-Mohyla-Akademie, sieht die gesellschaftlichen Erwartungen anders. »Es gab am Anfang Illusionen, weil die offiziellen Kommentatoren von einem raschen Kriegsende sprachen. Aber die Menschen haben nun akzeptiert, dass es möglicherweise sehr lange dauern wird.« Laut der Politologin haben sich in den vergangenen Wochen auch die zu akzeptierenden Kriegsziele in der Gesellschaft verändert: »Als die Russen noch vor Kiew standen, haben die Menschen die Rückkehr zum faktischen Status quo vom 23. Februar für okay gehalten. Nun wollen viele das gesamte besetzte Gebiet zurück – und die Tragödien wie Krementschuk oder die Zerstörung eines Wohngebäudes im Bezirk Odessa verstärken diese Stimmung noch.«

Wolodymyr Fessenko hält jedenfalls anders als Subryzka die Rückkehr zur Ausgangslage vom 23. Februar für einen Konsens in der Gesellschaft. »Natürlich gibt es in Bezug auf die annektierte Krim unterschiedliche Meinungen«, aber er glaubt, dass diese maximalen Ziele mit der Zeit weniger gefordert werden. »Wir wissen ja nicht, wie gut die militärische Hilfe des Westens künftig ankommen wird und wann oder ob die große ukrainische Gegenoffensive kommt.«

Insgesamt entsteht tatsächlich der Eindruck, dass die Mehrheit der Ukrainer den Status quo von vor der großen Invasion als Mindestziel ansieht, wenngleich derzeit sehr unterschiedliche Positionen zu vernehmen sind: »Ein Sieg wäre ausschließlich die Rückkehr in alle besetzten Gebiete inklusive der Krim. Der Krieg könnte Ende dieses Jahres oder in der ersten Hälfte von 2023 vorbei sein«, meint die junge Lokaljournalistin Marjana Metelska aus dem westukrainischen Luzk. Der Sportjournalist Roman Sintschuk aus Riwne, ebenfalls Westukraine, ist dagegen weniger optimistisch und setzt keine territorialen Ziele: »Wir würden dann gewinnen, wenn wir erfolgreich eine Verteidigungslinie aufbauen, welche die Russen nicht durchdringen können. Das ist bisher nicht der Fall.«

Dmytro Prysiwok, Lehrer aus der Region Poltawa im Osten des Landes, betont dagegen: »Ein Minimalsieg wäre, die Russen aus allen Bezirken abgesehen von der Krim zu vertreiben. Der Raketenbeschuss verursacht bei mir keine Gedanken, dass man aufhören oder irgendwelche Kompromisse suchen sollte.«

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Mit einem langen Kriegsverlauf rechnet dagegen der aus Sewastopol stammende und in Kiew lebende Wirtschaftsjournalist Andrij Janizkyj: »Ich denke, dass die heiße Phase des Krieges erst nächstes Jahr beendet sein wird, die Kämpfe könnten aber generell noch fünf bis zehn Jahre dauern.« Eine solche Prognose will der Kiewer Musiker Hlib Pekurowskyj nicht abgeben, aber er hat die vorsichtige Hoffnung, »dass Cherson in den nächsten Monaten befreit werden könnte«, sagt er. Und der Kiewer Maksym Krawez, der bei einer Sportwettagentur arbeitet, betont: »Der Mindestsieg wäre, die Souveränität zu bewahren. Wir müssen die Verteidigung so stärken, dass Russland in absehbarer Zeit keine Möglichkeit mehr hat, wieder anzugreifen.« Krawez fühlt sich manchmal an das seltsame Gefühl des Sommers 2014 zurückversetzt. »Die unmittelbare Bedrohung hier in Kiew ist vergleichsweise klein, die Stimmung ist jedoch permanent schlecht. Aber eben kontrolliert schlecht; man kann weiterleben und sich auch gelegentlich über etwas freuen.«

So unterschiedlich die Einstellungen und Prognosen der Ukrainer in Bezug auf die nächsten Wochen, Monate und vielleicht Jahre auch sind, so ist das Land geeinter denn je in seinem Verteidigungskampf gegen die russische Aggression – und das wird sich in der absehbaren Zukunft nicht ändern.

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