Shuttle der Solidarität

Eine Berliner Initiative fährt medizinische Hilfsgüter in die Ukraine und holt Überlebende der NS-Verfolgung nach Deutschland

  • Mischa Pfisterer
  • Lesedauer: 6 Min.
Auf dem Weg nach Deutschland: Die NS-Überlebende Galina Wassilijewna Slepcova an der ukrainisch-polnischen Grenze
Auf dem Weg nach Deutschland: Die NS-Überlebende Galina Wassilijewna Slepcova an der ukrainisch-polnischen Grenze

Im Hinterhof toben Kinder. Es ist schwülwarm draußen. Ein Juliabend in einer Kreuzberger Wohnung. Berliner Sommeridylle. »Für mich ist das anders«, sagt Karina. »Der Krieg ist immer bei mir und bei meiner Familie, deswegen ist mir auch scheißegal, ob es im Winter bei mir kälter ist oder nicht.« Die 39-Jährige wohnt seit 2009 in Berlin, groß geworden ist sie in Kiew. Ihre Mutter lebt bis heute in der ukrainischen Hauptstadt. »Wir schreiben uns jeden Vormittag«, erzählt Karina. Und sie telefonieren. Kiew verlassen wollen ihre Mutter und deren Mann bisher nicht. »Sie sagt immer, ich soll mich beruhigen. Und dann sprechen wir über alle anderen Dinge, nur nicht über den Krieg.«

Neben Karina sitzen Rona und Markus. Die drei haben zusammen mit rund 20 anderen Freiwilligen die Initiative Ukraine Solidarity Bus ins Leben gerufen. Seit Kriegsbeginn fahren die linken Aktivist*innen medizinische Hilfsgüter in die Ukraine und holen Geflüchtete aus der Ukraine. Erst vergangenes Wochenende war Markus mit drei weiteren Aktivist*innen wieder dort. Ihr Ziel: die Stadt Ternopil in der Westukraine.

Im Auftrag des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln sollte die Gruppe Galina Wassilijewna Slepcova und ihre Familie nach Deutschland bringen. Galina Slepcova ist Überlebende der Nazi-Verfolgung, geboren im Januar 1945 in Köln, Tochter ukrainischer Zwangsarbeiter*innen. Sie war zuvor bereits aus Poltawa in der von russischen Truppen ebenfalls attackierten Zentralukraine zu ihren Verwandten nach Ternopil geflüchtet. »Galina war sehr traurig, als wir die Ukraine verlassen haben. Es gab große Aufregung«, berichtet Markus. »Die Vergangenheit stürzte auf sie ein, da sie ja wieder an ihren Geburtsort zurückkehrte.« Insgesamt sieben Passagiere hatte die Gruppe an Bord, darunter drei Kinder, vier, sieben und acht Jahre alt.

Karina, Rona und Markus erzählen vom 24. Februar. Dem Tag, an dem Russland die Ukraine überfallen hat. »Noch am gleichen Tag ist eine Freundin von Karina und mir mit ihrer Mutter direkt los, sie wollten fliehen und standen irgendwo in der Ukraine an einer Bushaltestelle«, sagt Markus. Der Bus kommt allerdings nicht. »Wir haben ewig hin und her geschrieben«. Dann entscheiden sie, die beiden einfach selbst an der Grenze abzuholen. Jetzt sofort. Ein Freund will Markus begleiten. »Der meinte, lass uns doch gleich eine Woche dortbleiben«. Hilfe würde händeringend gebraucht. Und man kenne ja die Region in Ostpolen gut von in der Vergangenheit organisierten und begleiteten Gedenkstättenfahrten der Naturfreundejugend Berlin.

Das linke Hausprojekt Horte aus Strausberg bei Berlin stellt spontan seinen Bus zur Verfügung. Kurze Zeit später sind Markus und sein Begleiter auf dem Weg zur polnisch-ukrainischen Grenze. Dort angekommen hätten sie »festgestellt, dass da super viele Leute waren, die Ähnliches vorhatten wie wir«, sagt Markus. Die eigentlich Gesuchten sind nicht mehr da, aber die meisten Geflüchteten sind bisher noch gar nicht an der Grenze angekommen. »Es gingen diese Bilder rum, wie Tausende Menschen sich auf dem Bahnhof von Lwiw drängeln.«

Die nächste spontane Entscheidung: »Wir fahren da jetzt rein und bringen die Menschen an die Grenze.« Schnell bildet sich in den ersten Tagen ein loses Netzwerk unter den verschiedenen Gruppen. Kommuniziert wird viel über die Kanäle des Messengerdienstes Signal. Oder es werden einfach Telefonnummern weitergegeben. »Ich fuhr eine Passagierin und dann ruft später auf einmal die Tante an: Du hast meine Nichte gefahren, ich möchte auch«, berichtet Markus. »Es gab so viele bewegende Erfahrungen.« Die Touren, gemeinsame Essen, Gespräche, die Hilfsbereitschaft der Menschen. Zwei Wochen sind Markus und sein Begleiter zunächst in der Westukraine unterwegs. Dann ruft wieder die Lohnarbeit.

In Berlin hatten sich in der Zwischenzeit Rona und weitere Unterstützer*innen um Spenden bemüht. »Wir hatten das erst einmal nur per SMS im Bekannten- und Freundeskreis rumgeschickt«, sagt Rona. »Innerhalb weniger Tage sind 20.000 Euro zusammengekommen, wir waren total baff.« Und so hätten sie die Entscheidung gefällt, die Aktionen zu verstetigen. Die Shuttle-Fahrten werden von nun an direkt nach Deutschland fortgesetzt.

Mehr als zehn Mal waren Markus und andere aus der Gruppe mit dem Ukraine Solidarity Bus mittlerweile vor Ort, um Geflüchtete abzuholen. Mit der Nichtregierungsorganisation Women Help Women und der ukrainischen Freiwilligeninititive Palyanytsya kooperiert die Gruppe mittlerweile. Yevgenia Danilenko, eine der Gründer*innen von Palyanytsya, habe »viele Kontakte im medizinischen Bereich«, sagt Karina. Sie bekomme Listen von Krankenhäusern oder Ärzt*innen, Listen, was dringend benötigt wird. »Wir schicken nicht einfach irgendwas dahin, sondern können gezielt helfen.« Die Kooperation läuft nun bereits seit April. Das besondere Augenmerk der Gruppe gilt dabei der gesundheitlichen Situation und Versorgung von Frauen.

»Die Bedarfslisten ändern sich ständig«, sagt Rona. »Am Anfang ging es total viel um Verbandszeug, auch für große Wunden.« Dann wurden kistenweise Spritzen und Kanülen, aber auch Desinfektionsmittel und Kochsalzlösungen benötigt. Irgendwann gab es großen Bedarf an Leichensäcken. »Dann kam der Anruf von Yevgenia von Palyanytsya: Ja, es ist jetzt soweit, es gibt jetzt schon viele Berichte über Vergewaltigungen, wir brauchen Pillen danach«, erzählt Karina. Also brachten die Helfer*innen jeweils 10.000 Kits für medikamentöse Abtreibungen und Pillen danach in die Ukraine.

Doch etwas Entscheidendes hat sich in den vergangenen Wochen geändert: Die Spendenbereitschaft Einzelner geht zurück. Unterstützung gibt es weiter aus linken Strukturen, von Partykollektiven und Hausprojekten. Aber ansonsten? »Viele geben uns zwar Feedback, wie toll das ist, was wir machen«, sagt Rona. »Am Anfang gab es ja noch diesen Schock, am Anfang gab es noch, dass die Leute gesagt haben: Krass, da kann ich innerhalb von zehn Stunden mit dem Auto hinfahren.« Für viele sei es nun ein bisschen normal. Ist halt Krieg in der Ukraine. »Vor ein paar Wochen war noch ›Zeitenwende‹ und ›Wir leben in einer anderen Welt‹, jetzt haben viele den Eindruck, so anders ist es doch gar nicht, und die Aufmerksamkeit geht vorbei«, sagt Rona.

»Ich glaube, das ist auch eine natürliche Reaktion«, sagt Karina. »Die Menschen würden darauf schauen, was sie als erstes betrifft, die Wärme in meiner Wohnung zum Beispiel, und der Krieg ist irgendwo weit weg.« Dabei sei der Bedarf an Hilfe immer noch sehr groß. Zumal jetzt erst jene Menschen Hilfe bekommen würden, die keine internationalen Kontakte haben, die sich bisher noch nicht entschieden hatten, vorm Krieg zu fliehen, sondern erst mal dageblieben sind und gehofft hatten, es sei in ein paar Wochen wieder vorbei. Hochbetagte oder Schwerkranke.

In Berlin mussten die drei viel diskutieren in den vergangenen Wochen. »Teilweise richtig hart«, sagt Rona. »Ich bin auf jeden Fall ein bisschen desillusioniert davon, was die Linken überhaupt an Antworten bieten oder an politischen Positionen bieten in so einer Situation, wo Krieg herrscht.«

Im August will die Gruppe wieder in die Ukraine fahren. »Mir kommt der Krieg nicht weit weg vor«, sagt Markus. »Hättest du mich vor dem Krieg gefragt, hätte ich es auch nicht gewusst. Aber jetzt hat es sich so ergeben, dass ich da war, neue Freunde gefunden habe, und jetzt fahre ich immer wieder hin.«

http://ukrainesolidaritybus.org

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