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Ein König auf der Flucht

Simon Geschke verteidigt mit immer neuen Ausreißversuchen tapfer sein Bergtrikot bei der Tour de France

  • Tom Mustroph, Carcassonne
  • Lesedauer: 4 Min.
Simon Geschke (r.) und Lennard Kämna kämpfen täglich als Ausreißer um Etappensiege. Bislang vergeblich. Geschke trägt zumindest das Bergtrikot.
Simon Geschke (r.) und Lennard Kämna kämpfen täglich als Ausreißer um Etappensiege. Bislang vergeblich. Geschke trägt zumindest das Bergtrikot.

Prominenz bringt Leiden mit sich. Das gilt neuerdings auch für Simon Geschke, dessen Erholungszeiten sich bei dieser Tour rapide verkürzt haben. Seit mehr als einer Woche vergeht kaum ein Tag für den gebürtigen Berliner Radprofi ohne den Kampf um einen Platz in den Fluchtgruppen der jeweiligen Etappen der diesjährigen Tour de France. Weil er in diesem Teilgebiet aktuell verblüffend erfolgreich ist, holte er sich zwar noch keinen Etappensieg, aber doch das alljährlich hart umkämpfte Bergtrikot. Und deshalb wird der 36-Jährige in seiner nunmehr 14. Profisaison plötzlich zu einem sehr gefragten Mann.

Wenn sein Teambus nach einer Etappe schon in Richtung Mannschaftshotel abfährt, redet Geschke meist noch immer in Mikrofone, Handys und Kameras, die ihm entgegengehalten werden. Fünf Tage trug er bereits das Bergtrikot. Das stellt einen deutschen Rekord dar. Marcel Wüst hatte es im Jahr 2000 vier Tage lang an, auch sonst waren es immer eher Sprinter, Zeitfahrer oder solide Helfer, die mal kurz ins weiße Leibchen mit den roten Punkten schlüpften. Sehr wichtig war es ihnen – und ihren jeweiligen Arbeitgebern – nie. Geschke dagegen ist der erste echte Kletterer, der es trägt.

Viel auf den deutschen Rekord gab er daher auch nicht. »Das war mir gar nicht bewusst«, sagte er und fügte lachend noch hinzu: »Ich habe es sicher auch eher verdient als Marcel Wüst.« Der war Sprinter gewesen und trug es auf den ersten vier Etappen der Tour 2000 auch nur, weil er damals einen Hügel hochgespurtet war und an den drei folgenden Flachetappen gar keine Bergwertung anstand. Geschke hingegen machte sich auf Mittel- und Hochgebirgspässen zum Bergkönig. »Ich bin schon stolz darauf, dass ich das Trikot durch die Alpen gebracht habe und es wahrscheinlich bis in die Pyrenäen tragen kann«, sagte Geschke dem »nd«.

Sein Kampf war von Schlauheit, Leidensfähigkeit und auch dem Glück des Tüchtigen geprägt. Auf dem Col du Granon kam er zwar acht Minuten hinter dem neuen Gesamtführenden Jonas Vingegaard aus Dänemark an. Aber unterwegs hatte Geschke 24 Punkte gesammelt, die größte Tagesausbeute bei seinen nun insgesamt 46 Punkten. Auf der Etappe nach L’Alpe d’Huez hätte ihm beim Ritt über drei Pässe der höchsten Kategorie jeder das Trikot abjagen können, doch das Rennen lief wie für Geschke gemacht. Eine große Fluchtgruppe ließ den besten Klassementfahrern kaum etwas übrig. Und der Südafrikaner Louis Meintjes wurde nur Etappenzweiter. Hätte er gewonnen, wäre er zugleich um einen Zähler an Geschke vorbeigezogen. Es war nicht die erste »Punktlandung« im Punktetrikot für Geschke.

Der heute in Freiburg beheimatete Radfahrer blickt dennoch nur bedingt optimistisch in die Zukunft: »Das Trikot nach Paris zu bringen, wäre zwar schön. Aber ich habe gemerkt, dass meine Kräfte nach zwei Wochen Tour schwinden. Samstag war schon mein vierter Tag in einer Ausreißergruppe – das kostet jedes Mal Kraft.« Auf dem Weg nach Mende sammelte er dennoch drei Punkte ein und wurde Tagesneunter, nur eine gute Minute hinter dem australischen Etappensieger Michael Matthews.

Realistischeres Ziel als das Bergtrikot in Paris ist wohl eher ein eigener Tageserfolg. Das war ohnehin das erklärte Ziel des Profis aus der französischen Cofidis-Mannschaft. »Ein Etappensieg bei der Tour zählt mehr, als ein paar Tage ein Wertungstrikot zu tragen«, präzisierte Geschke seine Präferenzen. Sollte ihm jedoch sein zweiter Touretappensieg nach 2015 kommende Woche in den Pyrenäen gelingen, käme ihm das auch im Kampf um das rotgepunktete Trikot zugute.

Gegen das Erreichen beider Ziele spricht allerdings die Erschöpfung, die Geschke zu schaffen macht. Selbst wenn er nach vielen Jahren Stagnation gerade eine Saison fährt, die erfolgreich wie selten zuvor ist: Vor der Frankreichrundfahrt war Geschke schon mit einem dritten Gesamtrang bei der Tour de Romandie aufgefallen. Der Wechsel zu einem neuen Team im vergangenen Jahr hat ihm offenbar gut getan.

Nur eines will partout nicht klappen. All die vielen Tage im Bergtrikot bringen keine UCI-Punkte für die Lizenzvergabe zum Saisonende. Cofidis hat nur 160 Zähler Vorsprung auf den Abstiegsplatz, den derzeit Lotto-Soudal einnimmt. Ein Etappensieg bei der Tour bringt bereits 120 Punkte. Dieses Szenario macht einen Tageserfolg nicht nur persönlich wertvoll, sondern existentiell fürs ganze Team. Der Bergkönig muss daher endlich auch einmal bis zum Ende erfolgreich fliehen.

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