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Lokal und international

Was Essen im Kiez mit globaler Gerechtigkeit zu tun hat

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 5 Min.
Food im Nollendorfkiez: Samie Blasingame spricht mit Händler*innen des Winterfeldtmarkts
Food im Nollendorfkiez: Samie Blasingame spricht mit Händler*innen des Winterfeldtmarkts

Vor vielen Jahren hatte Alumi mal eine große Geflügelfarm in Ghana. Er war Geschäftsmann, hatte einen Bachelor und kam noch vor der Wende für sein Masterstudium an die Freie Universität in Westberlin. Doch nach dem Mauerfall fand er keinen Job, der seinen Qualifikationen entsprach. »Ich wurde stigmatisiert«, erzählt er Samie Blasingame in der fünften Episode ihres Podcasts »Food in my Kiez« (Essen in meinem Kiez). In der erzählt sie seine Geschichte: wie sein Sohn Alumi davon überzeugte, ghanaische Gerichte in Berlin anzubieten. »Weil Deutsche gerne reisen und sich die Food-Szene mit der deutschen Reisegewohnheit entwickelte«, sagt er. So etablierte er einen der ersten afrikanischen Essenstände in Berlin, erst beim Karneval der Kulturen, dann auf dem Gelände des Young African Art Market (Yaam) am Ostbahnhof. Und er lernte, stolz darauf zu sein, sein Heimatland durch sein Essen zu repräsentieren.

»Ich liebte es, mich mit Alumi zu unterhalten. Er kann junge Afrikaner*innen dazu inspirieren, stolz auf ihre Kultur zu sein«, sagt Samie Blasingame zu »nd«. Die 31-jährige Aktivistin für Klimagerechtigkeit und Antirassismus begann Ende 2020, sich mit dem Berliner Ernährungssystem zu beschäftigen und daraus einen Podcast zu entwickeln. In jeder der sechs Episoden der ersten Staffel nimmt Blasingame einen anderen Berliner Kiez unter die Lupe, vom Stephankiez in Moabit bis zum Müllerkiez in Wedding. Sie spricht mit Landwirt*innen und Verkäufer*innen von Bioläden, Afroshops, dem Winterfeldtmarkt, alternativen Märkten wie »Supercoop« in Gesundbrunnen oder eben dem ghanaischen Essenstand im Yaam. Ihr Ziel: eine Transformation des Ernährungssystems hin zu nachhaltigen Anbaumethoden, kürzeren Lieferketten und gerechten Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft.

In ihrem Masterstudium »Environmental policy and planning« (Umweltpolitik und -planung), für das die Kalifornierin vor sieben Jahren nach Berlin zog, begann sie sich mit Agrarwirtschaft und Bodennutzung zu beschäftigen und erkannte, »wie ungerecht das globale Food-System ist, wie viel Arbeit Landwirt*innen leisten und wie wenig Unterstützung sie erhalten. Das wird total unterschätzt«, sagt sie. Das inspirierte sie dazu, zum Thema Ernährungsgerechtigkeit zu arbeiten.

Viele Menschen in Deutschland hätten gar keine Verbindung mehr zu ihrem Essen geschweige denn zur Landwirtschaft, wüssten nicht, wo und wie Nahrungsmittel eigentlich produziert werden. Und im Kapitalismus würden viel zu viele Produkte hergestellt, die niemand braucht. Blasingame erzählt, sie sei überrascht gewesen, als sie für den Podcast Menschen auf der Straße fragte, was gutes Essen ihrer Ansicht nach ausmache. Und viele von ihnen nannten ihr Restaurants, die sie gerne besuchen. »Statt zu sagen: Gutes Essen bedeutet, dass ich mich gut fühle. Gutes Essen ernährt mich«, sagt sie.

Diese Beziehung zum Essen gelte es wieder herzustellen, gerade in einer Großstadt wie Berlin. Die Transformation des Ernährungssystems beginne vor der eigenen Haustür, eben im Kiez, in lokalen Gemeinschaften, die es zu stärken und zu vernetzen gelte. »Jedes lokale Food-System ist mit anderen verbunden«, sagt die Klimaaktivistin. So könne Berlin zum Beispiel nicht losgelöst von Brandenburg betrachtet werden, das regionales Obst und Gemüse für die Hauptstadt liefere. »Food in my Kiez« konzentriere sich allerdings auf die urbane Ernährung und darauf, Möglichkeiten aufzuzeigen, entsprechende lokale Strukturen zu unterstützen.

Blasingame geht es aber auch um den Austausch von Kultur. Denn wie das Beispiel von Alumi aus Ghana zeigt, bietet Essen auch die Chance, in die kulturellen Traditionen verschiedener Länder einzutauchen. Gleichzeitig sind Migrant*innen wie Alumi in Deutschland mit Rassismus konfrontiert. Auch Annet Aderele aus Nigeria erzählt Samie Blasingame in der ersten Podcast-Folge, dass sie nie eine Beförderung bekommen habe, die ihrer Qualifikation entsprochen habe. Deshalb beschloss sie 2009, ihr eigenes Geschäft zu gründen, einen Afroshop in Moabit. Blasingame findet, dass solche Orte, zum Beispiel auch die vielen türkischen Geschäfte in Berlin, in der öffentlichen Wahrnehmung zu wenig präsent sind.

Die Gastronomie werde von Weißen dominiert, genau genommen von weißen Männern, obwohl es in vielen Kulturen vor allem Frauen sind, die die Esskultur voran bringen. Deshalb soll »Food in my Kiez« auch Rassismus und Sexismus im Ernährungssystem aufdecken. Vor allem aber den Zusammenhang mit Klimagerechtigkeit: »Das Ernährungssystem basiert momentan vor allem auf Monokulturen. Wir brauchen mehr Diversität für mehr ökologische Resilienz«, erklärt Blasingame. Nicht nur aufgrund der Klimakrise, sondern auch aufgrund der weltpolitischen Lage sei ein unabhängiges, lokales Ernährungssystem wichtig. Momentan ist die Ernährung vieler afrikanischer Länder beispielsweise zu großen Teilen von der Ukraine abhängig, weshalb der Krieg Hungersnöte zur Folge hat. Um diese größeren Zusammenhänge des Food-Systems, um den globalen Agrarsektor oder auch um Lebensmittelverschwendung, soll es in der zweiten Staffel des Podcasts »Food in my Kiez« gehen, den Blasingame derzeit plant.

Die ersten sechs Folgen seien »ein Experiment« gewesen, sagt sie, aber ein wenig habe sie damit bereits bewegt, glaubt die Podcasterin. Sie habe Menschen vernetzt oder zum Nachdenken darüber angeregt, »dass wir die Wahl haben, bewusster mit Essen umzugehen.«

Der englischsprachige Podcast »Food in my Kiez« von Samie Blasingame ist unter https://foodinmykiez.com/ zu finden.

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