Furchtloses Schreiben

Was kann, was will, was muss politische Literatur leisten?

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 7 Min.

Was macht die Literatur politisch? Sind es bestimmte Themen oder Figuren, die behandelt werden? Muss eine politische Haltung oder Botschaft im Text erkennbar sein? Soll er die Leser*innen zum Protest anregen? Oder wäre das dann nur noch Agitation, keine Literatur mehr? Einig war man sich in diesen Fragen nie.

Von Jean-Paul Sartre wurde der Begriff der engagierten Literatur geprägt: Literatur, die direkt in die Wirklichkeit eingreift und deren Ziel es ist, politische Veränderung zu bewirken. Auf der anderen Seite steht Theodor W. Adorno mit seinem Ideal der Literatur, die gerade dadurch politisch ist, dass sie nicht bloß Mittel zu einem politischen oder sonstigen Zweck ist. Der Logik des Kapitalismus, in dem alles Mittel zum Zweck ist, kann sich die Literatur so ein Stück weit entziehen, auch wenn sie natürlich trotzdem ein Produkt der kapitalistischen Gesellschaft bleibt.

Literatur lässt sich nicht trennen von dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sie entsteht, veröffentlicht oder nicht veröffentlicht wird – also ist sie immer auch politisch. Dass der Literaturbetrieb kein neutraler Raum ist, wurde in letzter Zeit immer häufiger zum Gegenstand der Reflexion, und immer mehr Versuche werden unternommen, ihn weniger weiß, männlich und heterosexuell aufzufassen. Was aber einen Text politisch macht, darüber gibt es weiter keine Einigkeit – und somit finden sich in der Gegenwartsliteratur unzählige interessante und inspirierende, erwartbare und unerwartete Beispiele für politisches Schreiben.

Einen Überblick über die verschiedenen Formen des Politischen in der Literatur geben zwei Ausgaben der Zeitschrift »Die Horen«, die unter dem Titel »Furchtlos schreiben« literarische Texte, Essays und Interviews mit Autor*innen gesammelt hat. Die Themen reichen von der allgemeinen Frage, was politische Literatur ist oder sein sollte, bis zu sehr konkreten Themen wie Flucht, Rassismus, Schreiben aus queerer Perspektive oder zum Anschreiben gegen obskure »Verschwörungstheorien« von Querdenker*innen. Ergänzt werden diese Texte durch eine Sammlung politischer Gedichte der Gegenwart und Fotoserien, die unter anderem einen Sea-Watch-Einsatz auf dem Mittelmeer dokumentieren.

Die Autor*innen machen sich auf ganz verschiedene Art auf die Suche nach ihrer Schreibweise des Politischen. In vielen der Essays steht die Frage nach der richtigen Sprache im Mittelpunkt. Verständlichkeit wird immer wieder als Ziel genannt, der Anspruch, gerade auch diejenigen zu erreichen, die nicht bereits Teil der überwiegend privilegierten, weißen, akademischen Literatur-Bubble sind.

In mehreren Texten klingt eine Kritik an radikaler Identitätspolitik an, da diese zu einer Literatur beitrage, die für viele nicht mehr zugänglich sei, die zu Spaltungen und Ausschlüssen führe – etwa von Menschen, die nicht akademisch gebildet seien. Christoph Cox schreibt in seinem Essay »Free speech, free speech for the dumb«, dass es darum gehen sollte, »gemeinsam gegen Missstände anzuschreiben«, statt Angst zu erzeugen, ja nichts Falsches zu sagen oder zu schreiben. »Furchtlos zu schreiben, das bedeutet heute vielleicht vor allem, sich um Klarheit zu bemühen und Position zu beziehen, offen zu sein für eine Auseinandersetzung, die nicht auf einem Konsens, sondern auf der positiven Anerkennung von Gegnerschaft fußt«, resümiert Cox seine Vorstellung von politischer Literatur.

Wie groß kann aber die Wirkung einer solchen Literatur sein? Kann sie wirklich zu politischen Veränderungen beitragen? Enno Stahl meint, dass die gesellschaftliche Relevanz von Literatur schwindet, weil die literarische Bildung abnimmt und die Gegenwartsliteratur »sich viel zu sehr dem Markt unterworfen hat«. Sie hat sich »zu sehr abgekoppelt vom Leben«, um gesellschaftliche Wirkmacht zu haben. Kritische Literatur dagegen, so Stahl, widersetzt sich bewusst »der Vermarktung, da dieser Markt ja Teil des zu Kritisierenden ist«, gewinnt so aber nicht an gesellschaftlicher Relevanz, weil sie sich »gewissermaßen gegen ihre eigenen Wirkungsmöglichkeiten« wendet.

Hat man es trotzdem noch nicht aufgegeben mit der politischen Literatur, stellt sich die Frage: Wie und worüber sollte politische Literatur heute reflektieren? Missstände aufzeigen und klar Position beziehen, dabei verständlich und zugänglich für alle sein und gleichzeitig plakative Botschaften sowie Abstriche beim literarischen Niveau vermeiden – so lässt sich der in einigen Beiträgen jüngst formulierte Anspruch an politische Literatur zusammenfassen.

Eine der vielen Herausforderungen, die damit verbunden sind, formuliert Michael Eggers in seinem Essay »Wie erzählen von der Unterschicht?«: »Wie kann man erzählen von Armut, Daseinskampf und vom mittellosen Leben, wenn das Medium des Erzählens die Stimme der Privilegierten ist? Lässt sich vermeiden, dass der narrative Ton zum Zeigefinger wird, der auf die Vorgeführten weist?« Er verweist dabei auf die generelle Frage nach dem Schreiben über Gruppen, die Diskriminierung ausgesetzt sind. So gibt es immer wieder Forderungen, dass nur diejenigen über eine bestimmte marginalisierte Gruppe schreiben sollen, die selbst dieser Gruppe angehören, um klischeehafte und rassistische Darstellungen zu vermeiden.

Diese radikale Position vertritt keine*r der Essay-Autor*innen in den »Horen«. Eggers stellt aber fest, dass das Schreiben über Benachteiligte häufig zu einem Spektakel gerät und die Figuren zu Ausstellungsobjekten, deren Not für Unterhaltung mit Gruselfaktor sorgt. Als Alternative zu solchen problematischen Perspektiven, gerade hinsichtlich Armut, nennt Eggers autofiktionale Texte wie die von Annie Ernaux, die die »Erinnerungen an das eigene Leben unter schwierigen Bedingungen« zu Literatur werden lassen.

Unter den literarischen Texten in den beiden »Horen«-Ausgaben sind sowohl solche, die auf eigenen Diskriminierungserfahrungen beruhen, als auch solche, die das nicht tun und sozusagen von außen bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen anprangern. Zu den stärksten unter den Letzteren gehören Elke Heinemanns »gedicht in zahlen, unmöglich oder reenactment für moria« über den unmenschlichen Umgang mit Geflüchteten sowie Ursula Ackrills Erzählung »Hagebutten im Auge des Taifuns« mit Innenansichten von Frontex. Sehr eindrücklich sind auch die Texte, die sich mit Verschwörungstheorien und Querdenker*innen auseinandersetzen, so Ulrich Pelzers Schwurblermonolog »So ist es doch …« und Claudia Gablers Gedicht »*Facepalm*: Brandschwätzer«.

Queere Themen und Diskriminierungserfahrungen von LGBTQ-Personen finden ebenfalls viel Raum in den Heften. Lisa Jeschke zum Beispiel hat einen Leserbrief in Gedichtform geschrieben. Unter dem Titel »Gegen Regierung« schreibt sie gefühlvoll und argumentativ stark gegen den transfeindlichen SZ-Artikel »Vom Verschwinden der Frau« an: »Was cooler gewesen wäre vom Artikel/ Wäre gewesen/ Verschiedene Gruppen von Frauen/ Nicht gegeneinander auszuspielen.«

Dass Literatur, wenn sie eigene Erfahrungen mit Diskriminierung, Armut, Flucht oder Gewalt verhandelt, auch politisch im Sinne von Empowerment sein kann, fast Casjen Griesel in »Grindrlyrik: Sommer« zusammen: »Ich will nicht mehr nur ein Objekt von Fetischisierung sein, kein Opfer sexueller Übergriffe mehr. Ich will mich davon freischreiben, will meine Erfahrungen teilen. Ich will zeigen, dass wir nicht allein sind mit diesen Erlebnissen. Ich will mir, will uns eine Plattform geben, einen sicheren Raum. Ich will zeigen, wie viel Arbeit noch vor uns liegt.«

Für Sharon Dodua Otoo geht es beim Schreiben über Schwarzsein nicht so sehr um einen Schutzraum als vielmehr darum, »die weiße Norm zu destabilisieren«, die in der deutschsprachigen Literatur noch immer vorherrscht, und mit Leerstellen und Offenheit in den Texten Irritationen bei den Leser*innen zu erzeugen, die »zu widerständigem Denken gegenüber scheinbar Feststehendem« anregen kann.

Allerdings sorgt ein politisch relevanter Hintergrund von Autor*innen auch schnell dafür, dass sie auf bestimmte Themen festgelegt werden und die literarische Qualität gegenüber der Politik in den Hintergrund gerät. So berichtet die kroatische Autorin Ivana Sajko: »Im Rahmen von Literaturveranstaltungen wird eigentlich häufiger über Politik als über Poetik gesprochen.« Dabei geht es dann vor allem um das Thema Herkunft, egal ob für die literarische Arbeit und politische Position der Autor*in vielleicht etwas anderes viel wichtiger ist. Auch die durchaus politisch relevanten Fehler des Literaturbetriebs selbst, »die eigenen Eitelkeiten, Stereotypisierungen und Chauvinismen« werden bei den zahlreichen politischen Debatten kaum diskutiert.

Sajko schließt ihren Beitrag mit der Hoffnung, dass Kultur und Literatur besser sind als »die Welt der Ökonomie«, dass sie mehr können, als »bloß das symbolische Kapital einer Gesellschaft zu hüten, die sich auf dem Weg in die Selbstzerstörung befindet«. Man sollte es zumindest versuchen, findet Ronya Othmann, die zwar einen nüchterneren, realistischen Blick auf die beschränkte Wirksamkeit von Literatur hat, aber trotzdem ein so klares wie optimistisches Motto für das politische Schreiben gefunden hat: »Halte dich fern von Sonntagsreden und Montagshetzen. Lass nichts unversucht, auch wenn du nichts ändern kannst.«

Die vierteljährlich in Göttingen erscheinende
Zeitschrift »Die Horen« für Literatur, Kunst und Kritik wurde 1955 gegründet.

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