Fahrstuhl, Rolltreppe und Paternoster

Es mangelt nicht an Metaphern zur Erklärung der sozialen Klassenstruktur im Umbruch. Was taugen sie?

  • Christoph Butterwegge
  • Lesedauer: 7 Min.
Sowenig alle Gesellschaftsmitglieder, unabhängig von ihrer Klassen- und Schichtzugehörigkeit, im selben Boot sitzen, sowenig benutzen sie gemeinsam einen Aufzug.
Sowenig alle Gesellschaftsmitglieder, unabhängig von ihrer Klassen- und Schichtzugehörigkeit, im selben Boot sitzen, sowenig benutzen sie gemeinsam einen Aufzug.

In der jüngsten Vergangenheit fand das Thema der wachsenden Ungleichheit in Deutschland wieder mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Dazu hat Oliver Nachtweys Buch »Die Abstiegsgesellschaft« maßgeblich beigetragen, dessen Kernthese besagt, dass die Bundesrepublik in der »regressiven Moderne« aus einer »Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration« zu einer »Gesellschaft des sozialen Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung« geworden sei.

Der Autor

Christoph Butterwegge, emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Universität Köln, ist einer der prominentesten Armutsforscher. Zuletzt veröffentlichte er das Buch »Die polarisierende Pandemie« und gemeinsam mit Carolin Butterwegge »Kinder der Ungleichheit« zum Thema Kinderarmut in der Coronakrise.
Der hier veröffentlichte Text ist ein Auszug aus einer längeren Analyse zur Debatte über die soziale Klassenstruktur, die zuerst auf der Webseite der monatlichen Wirtschaftszeitung »Oxi« erschien.
Zum Weiterlesen: www.oxiblog.

Den gesellschaftlichen Niedergang belegte Nachtwey allerdings nur partiell, etwa durch den Hinweis auf einen mit dem Dienstleistungs- wachsenden Niedriglohnsektor. Nachtweys Erklärung der Bundesrepublik zur »Abstiegsgesellschaft« führt schon deshalb in die Irre, weil Deutschland nach dem Krisenjahr 2009, das mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 5,0 Prozent endete, fast zehn Jahre lang wirtschaftlich floriert hat und selbst in der durch die Covid-19-Pandemie ausgelösten Rezession nur einzelne Bevölkerungsgruppen vom sozialen Abstieg betroffen oder bedroht waren.

Das für die junge Bundesrepublik konstitutive Versprechen, dass mit einem sozialen Aufstieg und materiellem Wohlstand bis an sein Lebensende belohnt wird, wer sich anstrengt, fleißig ist und etwas leistet, gilt zwar längst nicht mehr, wenn man sich darauf überhaupt je berufen konnte. Obwohl der soziale Abstieg häufiger und der Aufstieg von ganz unten schwerer geworden ist, fällt Letzterer aber häufig steiler als früher aus, wenn man z.B. an erfolgreiche Start-up-Unternehmer in der digitalen Plattformökonomie denkt. »Abstiegsgesellschaften« sind höchstens Burkina Faso, Bangladesch und Burundi. Denn sie fallen als ganze Volkswirtschaften immer weiter hinter entwickelte Staaten des globalen Nordens zurück.

Der Soziologe Hans-Günter Thien kritisiert, dass Nachtwey eine Bestimmung der Klassenstruktur des Gegenwartskapitalismus schuldig bleibe, die »eigentümliche Melange« von Klassen und Schichten, die er den Leser(inne)n zumute, sowie das »arge Durcheinander zwischen den Begriffen Klasse und Schicht« im Hinblick auf die gesellschaftliche Mitte: »Letztendlich bleibt völlig unklar, um wen es sich denn bei dieser ›Mitte‹ handelt; noch unklarer bleibt, ob die gleichfalls immer wieder für die offensichtlichen Veränderungen der Wirtschaft angesprochenen Transnationalisierungs- und Digitalisierungsprozesse Auswirkungen auf jene Mitte haben.«

Oliver Nachtwey hat das von seinem verstorbenen Münchner Fachkollegen Ulrich Beck (»Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne«) eingeführte Bild eines Fahrstuhls aufgegriffen, in dem Klassen und Schichten gemeinsam nach oben oder unten fahren. Bis in die 1980er Jahre hinein seien Ungleichheiten zwar bestehen geblieben, Arm und Reich jedoch gemeinsam nach oben gefahren, meint Nachtwey, weshalb die sozialen Unterschiede an Bedeutung verloren hätten. Sowenig alle Gesellschaftsmitglieder, unabhängig von ihrer Klassen- und Schichtzugehörigkeit, »im selben Boot« sitzen, sowenig benutzen sie gemeinsam einen Aufzug. Denn ihre materiellen Interessen stimmen grundsätzlich nicht überein, sind vielmehr unterschiedlich, zum Teil sogar gegensätzlich.

Bei der sozioökonomischen Polarisierung im Finanzmarktkapitalismus handelt sich weder um einen »Fahrstuhleffekt«, den Beck zu erkennen glaubte, weil alle Bevölkerungsschichten im »Wirtschaftswunder« der Nachkriegszeit gemeinsam nach oben und im Zuge der Massenarbeitslosigkeit nach der Weltwirtschaftskrise 1974/75 nach unten gefahren seien, noch um einen »Rolltreppeneffekt«, den Oliver Nachtwey beobachten zu können glaubte, weil Auf- und Abstiege eine kollektive und eine individuelle Dimension hätten.

Treffender kann man von einem sozialen Paternostereffekt sprechen: Während die einen nach oben fahren, fahren andere nach unten, weil Armut und Reichtum strukturell miteinander verzahnt sind. Noch immer gilt, was Bertolt Brecht in einem 1934 veröffentlichten Kindergedicht auf den Punkt gebracht hat: »Reicher Mann und armer Mann / standen da und sah’n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.«

Einerseits dringt die relative (Einkommens-)Armut, bei der man laut einer EU-Konvention weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat – das sind für Alleinstehende 1148 Euro pro Monat –, seit einiger Zeit in die Mitte der Gesellschaft vor, andererseits wird daraus im sozialen Kellergeschoss vermehrt absolute, extreme bzw. existenzielle Armut. Seit der Pandemie verstärken sich die Verelendungstendenzen im Milieu der Obdachlosen, Drogenabhängigen und Illegalisierten, ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz nimmt.

Die Zahl der Armen mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens stieg während der Pandemie um 600 000 von 13,2 Millionen auf 13,8 Millionen (16,6 Prozent) im Jahr 2021. Unter dem Druck der Coronakrise, die Einkommensverluste durch Kurzarbeit, Geschäftsaufgaben und den Rückgang von Aufträgen oder Auftritten nach sich zog, kauften mehr Personen bei Lebensmittel-Discountern ein, wodurch die ohnehin zu den vermögendsten Deutschen gehörenden Besitzer von Ladenketten wie Aldi Nord und Aldi Süd noch reicher geworden sind. Dieter Schwarz, Eigentümer von Lidl und Kaufland, hat sein Privatvermögen, das die »Welt am Sonntag« (20. 9. 2020) auf 41,8 Milliarden Euro taxierte, im ersten Pandemiejahr laut dem US-amerikanischen Wirtschaftsmagazin »Forbes« um 7,5 Milliarden Dollar gesteigert.

Die russische Ukraine-Invasion, die Wirtschaftssanktionen des Westens und die sich dadurch beschleunigende Inflation verstärken den sozioökonomischen Paternostereffekt: Während große Teile der Bevölkerung wegen der Teuerungswellen bei Haushaltsenergie, Kraftstoffen und Nahrungsmitteln nach unten fahren, werden andere gleichzeitig nach ganz oben befördert. Energie- und Ernährungsarmut haben das Zeug, zu der sozialen Frage der 20er Jahre zu werden.

Jahrzehntelang war in der politischen, Fach- und Medienöffentlichkeit allerdings nur vom Fahrstuhl die Rede, obwohl damit Illusionen hinsichtlich gleicher Interessenlagen von Armen und Reichen verbreitet wurden. Erst in jüngster Zeit benutzten die Soziologen Klaus Dörre, Andreas Reckwitz und Wilhelm Heitmeyer ebenfalls die Paternoster-Metapher, allerdings bloß der Letztere unter Bezugnahme auf den Verfasser. Nach wie vor steigen bestimmte Teile der Bevölkerung (z.B. Mittelschichtangehörige durch berufliche Qualifizierung, neue Geschäftsideen oder größere Erbschaften) auf, fahren also sozioökonomisch und finanziell gesehen nach oben, während andere (z.B. prekär Wohlständige) absteigen, also nach unten fahren. Armut und Reichtum sind aufgrund des Übergangs zum digitalen Plattform- und Finanzmarktkapitalismus noch enger miteinander verzahnt, weshalb beide ihrem Ausmaß nach tendenziell zunehmen. Dadurch werden die Reichen in Zukunft womöglich noch reicher und die Armen zahlreicher, aber nicht unbedingt – wie Nachtwey in Anlehnung an eine beliebte Redensart schrieb – ärmer. Wer schon alles verloren hat und mehr oder weniger von der Hand in den Mund lebt, kann schließlich kaum noch tiefer fallen.

Während der Fahrt eines Aufzuges verharren alle Insassen unabhängig davon, ob sich dieser nach oben oder nach unten bewegt, auf derselben Ebene. Hingegen bleibt der soziale Abstand zwischen Kapitaleigentümern und lohnabhängig Beschäftigen nie konstant, ändert sich vielmehr zu jeder Zeit. In konjunkturellen Aufschwungphasen sprudeln die Gewinne, Renditen und Dividenden, ohne dass die Löhne und Gehälter damit Schritt halten. Nach dem Boom trifft die Krise beide Klassen ebenfalls unterschiedlich: Finanzspekulanten verlieren möglicherweise einen Großteil ihres Vermögens, Lohnabhängige jedoch womöglich ihren Arbeitsplatz und damit ihre Existenzgrundlage.

Auch das von dem französischen Soziologen Robert Castel stammende und von Nachtwey übernommene Bild einer Rolltreppe trügt, weil nun zwar die soziale Fallhöhe zwischen den einzelnen Personengruppen differiert, wenn sie auf unterschiedlichen Stufen stehen, die eingeschlagene Fahrtrichtung aber gleichbleibt. Treffender ließe sich von einem sozialen Paternostereffekt sprechen: Armut und Reichtum sind im kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem strukturell miteinander verzahnt, weshalb zur selben Zeit, in der bestimmte Personen(gruppen) nach oben fahren, andere nach unten gelangen. Bei genauerem Hinsehen hinkt jedoch auch dieser Vergleich, weil eine Kabine nach dem Wendemanöver im Keller die Richtung ändert und ihre Passagiere automatisch wieder nach oben befördert, während Armen der Wiederaufstieg nur selten gelingt, und weil die Fahrt nach oben die Benutzer/innen des Paternosters keine Mühe kostet, was für Arme ebenfalls nicht gilt.

Der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz spricht ebenfalls von einem »Paternostereffekt«, weil die Spätmoderne »durch eine Gleichzeitigkeit von sozialen Aufstiegs- und Abstiegsprozessen geprägt« und die Bundesrepublik zugleich »Abstiegs- und Aufstiegsgesellschaft« sei, je nachdem, welche Bevölkerungsgruppen man betrachte. Hingegen lehnen der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler und die Dresdner Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler den Paternoster als Bild für soziale Auf- und Abstiege ab, weil dabei keine politische Option hervorsteche: »Man kann ihn stoppen, doch dann verharren alle an dem Ort, den sie gerade einnehmen, oder man kann ihn in die umgekehrte Richtung fahren lassen, was auf das gleiche Ergebnis hinausläuft. Die Paternoster-Metapher steht für die Perspektivlosigkeit linker Gesellschaftskritik.« Die beiden Eheleute verkennen dabei allerdings, dass man den Paternoster im Zuge eines Systemwechsels durch ein andersgeartetes Beförderungssystem ersetzen kann, bei dem niemand absteigen oder schlechtergestellt werden muss, wenn Menschen sozial aufsteigen oder zu einem größeren Wohlstand gelangen.

Ob sich die Mittelschichtangehörigen im Fahrstuhl, auf einer Rolltreppe oder im Paternoster befinden, hängt nicht zuletzt davon ab, welche Entwicklung der Gegenwartskapitalismus in Zukunft nimmt, anders gesagt, ob sich die Konzentration und Zentralisation des Kapitals, von Eigentum und Produktivvermögen fortsetzt oder ob gesellschaftliche Alternativkonzepte an Einfluss gewinnen und durch die Mobilisierung starker politischer Gegenkräfte in sich zuspitzenden Verteilungskämpfen wirkmächtig werden. Denn es gibt weder für alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen tragfähige Krisenlösungen noch individuelle Wege aus dem Dilemma, dass der gesellschaftlich erzeugte Reichtum vermutlich weiter zunimmt, aber nicht automatisch gerechter verteilt wird.

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