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Machtkampf zwischen schiitischen Gruppen im Irak

Die Parlamentsbesetzer wurden von ihrem Anführer Muktada Al-Sadr zum Rückzug aufgefordert

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit der Parlamentswahl im Oktober vergangenen Jahres steckt die Regierungsbildung im Irak ebenso wie die Wahl eines neuen Präsidenten in einer Sackgasse. Ohne einen neuen Präsidenten kann keine neue Regierung gebildet werden. Anhänger des einflussreichen Schiiten-Führers Muktada Al-Sadr, der bei der Wahl die meisten Parlamentssitze gewinnen konnte (73 von 329), haben am Samstag das Parlament in Bagdad besetzt – bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage.

Das Al-Sadr-Lager hat seine Anhänger inzwischen aufgefordert, das irakische Parlament zu räumen und die Proteste draußen weiterzuführen. Mohamed Saleh Al-Iraki, enger Vertrauter Al-Sadrs, forderte die Demonstranten am Dienstag über Twitter auf, das Parlament innerhalb von drei Tagen zu verlassen und stattdessen rund um das Gebäude ein Protestcamp zu errichten. Für Freitag kündigte er ein Gebet auf einem großen Platz in der hochgesicherten »Grünen Zone« an, in der das Parlament liegt. Im Garten rund um das Gebäude wurden Zelte und Stände aufgebaut, um die Protestierenden mit Lebensmitteln und Getränken zu versorgen.

Mit den Protesten will die Al-Sadr-Bewegung verhindern, dass ihre politischen Gegner um Ex-Regierungschef Nuri Al-Maliki eine Regierung bilden. Die Rivalen von Religionsführer Al-Sadr hatten vor kurzem einen eigenen Kandidaten als Premier vorgestellt: Ex-Minister Mohammed Schia Al-Sudani aus den Reihen des ebenfalls schiitischen, pro-iranischen Parteienbündnisses »Koordinationsrahmen«. Al-Sudani steht aber aus Sicht Al-Sadrs dem verhassten Ex-Premier Al-Maliki viel zu nahe. Außerdem sympathisieren Al-Maliki und dessen Allianz offen mit dem Nachbarland Iran, dessen Einfluss Al-Sadr wiederum zurückdrängen möchte.

Am Montag hatten Anhänger des Koordinationsrahmens gegen die Besetzung des Parlaments demonstriert, Beobachter fürchteten gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten Fraktionen. Der 25-jährige Demonstrant Ahmed Ali verurteilte die Besetzung der Volksvertretung: »Das ist das Parlament des Volkes und aller Iraker, nicht das Parlament irgendeiner Gruppe.« Die Gegendemonstration löste sich jedoch nach wenigen Stunden wieder auf. Sicherheitsexperte Ahmed Al-Scherifi hält die Situation dennoch für brisant, da beide schiitischen Lager über bewaffnete Kräfte verfügen. »Die derzeitige irakische Regierung hat es versäumt, eine wichtige Rolle bei der Überwindung des politischen Stillstands und der Entflechtung der verfeindeten Kräfte zu spielen.«

Der 47 Jahre alte Al-Sadr gilt als kontroverse Figur. Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im April 2003 bekämpfte seine Mahdi-Armee die US-Truppen. Heute tritt er als eine Mischung aus Nationalist und Populist auf. Seine Anhänger leben vor allem in den ärmeren Stadtvierteln. Experten zufolge liegt Al-Sadrs Stärke insbesondere darin, Menschenmassen mobilisieren zu können. Der Rückzug seiner Anhänger aus dem Parlament im Juni wurde daher auch als Schachzug gedeutet, um Parteien weiter unter den »Druck der Straße« zu setzen und einen Sieg der Allianz um Al-Maliki zu verhindern.

Viele Kommentatoren beschreiben die politische Auseinandersetzung als eine Art Stellvertreterkonflikt zwischen dem Irak, der unabhängig sein wolle von äußeren Einflüssen, und dem Iran, der über loyale schiitische Gruppierungen seinen Einfluss im Irak auszubauen sucht. Diese Analyse greift aber zu kurz. Selbst Muktada Al-Sadr hatte in der Vergangenheit einen guten Draht zur iranischen Regierung. Und der Iran hat kein Interesse an einer inner-schiitischen Fehde. In der vergangenen Woche reiste der Chef der Quds-Truppe der Islamischen Revolutionsgarden Irans, Ismail Ghani, in den Irak, berichtete die Nachrichtenwebseite »Al-Monitor«, dem Vernehmen nach, um zu schlichten – ohne Erfolg, denn kurz darauf begannen die Demonstrationen des Al-Sadr-Lagers.

Fast zehn Monate nach der Parlamentswahl befindet sich das ölreiche Land in einer Pattsituation. Obwohl klarer Wahlsieger konnte Al-Sadrs Bewegung die Zweidrittelmehrheit nicht erreichen, die für die Präsidentenwahl erforderlich ist. Erst mit dessen Unterstützung kann eine neue Regierung gebildet werden. Al-Sadrs Vorgehen wäre jedoch ein Bruch mit den politischen Traditionen gewesen. Bisher wurde das Präsidentenamt von einem Kurden ausgeübt, der Premier war immer ein Schiit und der Parlamentspräsident ein Sunnit. Al-Sadrs Traditionsbruch stieß auf Gegenwehr, weil einige um Macht und Einfluss fürchteten.

Viele Iraker geben die Schuld für die politische Krise des Landes und seine chronisch korrupten Strukturen einem Proporzsystem, das zurückgeht auf die 1990er Jahre: Muhasasa Ta’ifia, zu Deutsch: die Aufteilung von Macht und Posten entlang ethnisch-religiöser Linien. Im Norden stellen Kurden die Bevölkerungsmehrheit; in der Landesmitte leben vorrangig sunnitische Araber, die ehemalige Machtbasis von Ex-Machthaber Saddam Hussein; im eher armen Süden konzentrieren sich schiitische Araber. Die Idee, alle Gruppierungen an der Macht zu beteiligen, klingt intelligent, um die Machtverhältnisse im Gleichgewicht zu halten und niemanden zu benachteiligen. Doch insbesondere für jüngere Iraker ist das Proporzsystem gleichbedeutend mit Korruption, habe es doch einzelnen Politikern oder Gruppierungen ermöglicht, sich auf Kosten aller zu bereichern.

Die Iraker sind seit langem unzufrieden mit der Politik, leider unter der Wirtschaftskrise und weit verbreiteten Korruption. Dabei ist der Irak auf dem Papier ein rohstoffreiches Land, verfügt über die weltweit fünftgrößten Erdölreserven. Die Einnahmen aus dem Ölgeschäft sprudeln also, nur kommt der Reichtum nicht bei den Menschen an. Mit Agenturen

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