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  • Ein Jahr Taliban-Herrschaft

»Wir wollen unbedingt gehört werden«

Protestierende in Berlin fordern sofortiges Aufnahmeprogramm für Gefährdete in Afghanistan

  • Lola Zeller
  • Lesedauer: 6 Min.
Proteste in Berlin anlässlich ein Jahr Taliban-Herrschaft in Afghanistan
Proteste in Berlin anlässlich ein Jahr Taliban-Herrschaft in Afghanistan

»Nieder mit den Taliban, free, free Afghanistan!« – mit lauten Parolen machen am vergangenen Samstag etwa 200 Demonstrant*innen im Berliner Regierungsviertel auf sich aufmerksam. Sie sind sichtbar wütend, während sie den umstehenden Passant*innen ihr Anliegen mitteilen: Nach einem Jahr des Terrorregimes der Taliban habe die Bundesregierung nach wie vor nicht genug unternommen, um die gefährdeten und verfolgten Menschen in Afghanistan zu evakuieren. Weder wurde das versprochene Bundesaufnahmeprogramm bisher gestartet noch die aufgesetzten Länderaufnahmeprogramme von Berlin, Bremen und Thüringen bewilligt.

»Monatlich verlieren wir Familienmitglieder und Freunde. Wir haben auch unseren Vater durch die Taliban verloren«, sagt Ahmad Toran. Er und sein Bruder Abu haben die bundesweite Demonstration unter dem Motto »Don’t forget Afghanistan!« mitorganisiert, zusammen mit über 30 Initiativen aus ganz Deutschland wie Luftbrücke Kabul und den Flüchtlingsräten. Seit einem Jahr setzen sich die beiden afghanischen Brüder nun schon unermüdlich dafür ein, dass ihre Familie aus Afghanistan evakuiert wird. Ein großer Teil ihrer Familie habe, wie auch Ahmad Toran selbst, jahrelang für die Bundeswehr gearbeitet und werde deshalb aktuell von den Taliban verfolgt, erzählen sie. »Täglich sterben Menschen in Afghanistan und die Bundesregierung übernimmt seit einem Jahr keine Verantwortung dafür«, sagt Abu Toran zu »nd«. Es brauche endlich eine funktionierende Struktur, damit bedrohte Afghan*innen sicher fliehen können.

In besonderer Gefahr in Afghanistan sind nicht nur die Ortskräfte, sondern auch Aktivist*innen, Journalist*innen und viele mehr. Ein besonderes Augenmerk der Demonstration liegt auf der Situation von Frauen und Mädchen unter den Taliban. »Afghanistan heute ist das einzige Land der Welt, in dem Mädchen über zwölf Jahren nicht zur Schule gehen dürfen und wo Frauen kein Recht darauf haben, eine Karriere zu verfolgen oder aktiv am öffentlichen Leben teilzuhaben«, sagt Patoni Teichmann in einem Redebeitrag. Die Forderungen an die Bundesregierung sind deutlich: Die Situation für afghanische Frauen muss Priorität in allen Gesprächen mit den Taliban haben und die Taliban dürfen nicht anerkannt werden, solange sie Menschenrechte missachten, gerade von Frauen.

Afghanistan sei aber nicht das Land, das es war, als die Taliban erstmals an die Macht gekommen seien, so Teichmann. »Afghanische Frauen werden niemals akzeptieren, dass ignorante, ungebildete und gewalttätige Männer ihr Schicksal bestimmen«, sagt sie. Es brauche aber die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, damit sich die afghanische Zivilgesellschaft gegen die Taliban wehren könne. »Und damit meine ich keine finanzielle Unterstützung, sondern die Welt muss zeigen, dass sie wirklich neben afghanischen Frauen steht und sich für sie einsetzt«, sagt sie. Vor kurzem hätten die Taliban erstmalig auf eine Demonstration von Frauen geschossen, sagt Teichmann nach der Demonstration zu »nd«. Das zeige, dass sich die Situation in Afghanistan verschlechtere. »Ich selbst bin in Afghanistan geboren und letztes Jahr aus Afghanistan evakuiert worden. Seitdem setze ich mich hier in Deutschland für Evakuierungen und für die Unterstützung von bereits evakuierten Afghan*innen ein«, so Teichmann zu »nd«.

Im Anschluss an die Demonstration startete am Samstag auch ein Protestcamp auf der Wiese neben dem Bundestagsgebäude. Hier kommen bis zu diesem Montag Afghan*innen aus ganz Deutschland zusammen, um ihren Protest in unmittelbarer Nähe der Verantwortlichen sichtbar zu machen, sich für die künftigen Kämpfe zusammen zu organisieren und um sich gegenseitig zu unterstützen. Jassin Akhlaqi ist Teil des Organisationsteam aus Süddeutschland. Ihm zufolge hat es etwa 300 Anmeldungen aus dem gesamten Bundesgebiet fürs Camp gegeben. »Es ist beeindruckend, wie viele aus ganz Deutschland mitgekommen sind, um sich zu organisieren«, sagt er. Akhlaqi klagt die deutsche Bundesregierung wegen ihrer mangelnden Handlungsfähigkeit an: »Es geht hier um jede Sekunde. Gefährdete Menschen müssen sich seit einem Jahr vor den Taliban verstecken und um ihr Leben fürchten, und wir sollen auf die deutsche Bürokratie warten, bis da endlich was passiert? Wir können das nicht akzeptieren.« Es sei verantwortungslos, ein Jahr lang nichts zu machen, während in Afghanistan Menschen sterben, die auf eine Evakuierung warten, so Akhlaqi. Besonders schlimm findet er, dass Ortskräfte keine Familienangehörigen mitnehmen dürften, sollten sie evakuiert werden. »Das interessiert die Taliban nicht, ob nur ein Mitglied der Familie mit den Deutschen zusammengearbeitet hat und der Rest nicht«, so Akhlaqi.

Diana Hashemi will auch nicht mehr darauf warten, dass ihre Familie endlich in Sicherheit gebracht wird. Zum Schutz ihrer Familie will sie ihren tatsächlichen Vornamen nicht öffentlich machen. »Ich weiß nicht, wann sie evakuiert werden«, sagt die ehemalige Journalistin, die wegen der Taliban nicht mehr in Afghanistan arbeiten kann. Sie nimmt am Protestcamp teil, um sich für die Rechte und die Sicherheit von Afghan*innen einzusetzen, auch derjenigen in Deutschland, die immer noch keine Papiere haben. »Wir wollen unbedingt gehört werden. Die Taliban dürfen nicht anerkannt werden«, so Hashemi.

Am Samstagabend ist die Stimmung gut im Protestcamp. Nach der Demonstration und dem Aufbau im Spreebogenpark gibt es Abendessen für alle: ein afghanisches Reisgericht mit Gemüse und Rosinen. Abu Toran erzählt, wie wichtig es für ihn ist, dieses Camp zu organisieren: »Viele in der afghanischen Diaspora haben das Gefühl, nicht gehört zu werden. Wir wollen zeigen: Wir müssen für uns selbst einstehen und können nicht auf andere warten!«

Während des Camps soll es um gegenseitige Unterstützung bei Rassismus, Diskriminierung und mit dem Asylsystem gehen, um den Aufbau guter Zusammenarbeitsstrukturen der Initiativen und Organisationen deutschlandweit und um das Verhältnis zwischen Frauen und Männern innerhalb der afghanischen Zivilgesellschaft, so Toran. »Es wird auch ein offenes Mikrofon geben für alle, die etwas loswerden wollen«, erzählt er. Das Interesse an spontanen Redebeiträgen sei schon während der Demonstration groß gewesen und im Camp soll genau dafür Raum gegeben werden. »Wir wurden jahrelang ausgenutzt und wollen jetzt die Möglichkeit nutzen, um zu sagen: So nicht weiter«, sagt er.

Toran kann nicht verstehen, wie er und sein Bruder seit sieben Jahren nicht als Geflüchtete anerkannt werden, und auch nicht, dass die deutsche Bundesregierung die Ortskräfte in Afghanistan immer noch im Stich lasse. Er habe alles getan, um seinen Vater zu retten, doch es habe nichts geholfen. Bei einem Angriff der Taliban auf die Familie habe er einen Herzinfarkt erlitten. Laut der Ärzt*innen hätte er nur durch eine Behandlung außerhalb Afghanistans gerettet werden können, doch die Taliban hätten die Familie an der Grenze aufgehalten. »Zwei Wochen später ist mein Vater gestorben«, sagt Toran. Nun sei es auch an der deutschen Zivilgesellschaft, sich für Afghan*innen einzusetzen. »Wir brauchen die Unterstützung, weil die Regierung uns nicht unterstützt. Die deutsche Bevölkerung muss uns hören und ernst nehmen«, so Toran.

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