Hätte ich getötet?

Politiker, die Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, wissen nicht, wovon sie reden. Und was sie durch ihre Taten anrichten, meint Frank Schumann.

  • Frank Schumann
  • Lesedauer: 4 Min.

Für mein Vaterland, die DDR, trug ich drei Jahre lang eine Waffe. Ich musste sie nie in einem Krieg oder Gefecht benutzen. Dafür bin ich noch heute dankbar. Wie ich auch froh bin, dass mir die Ausführung eines Befehls erspart geblieben ist.

Ich fuhr vor mehr als einem halben Jahrhundert als Steuermann auf dem Minen-Such- und -Räumschiff (MSR) »Wittstock« der Volksmarine. Gelegentlich brachen wir zu Fahrten auf, die durch den Öresund bis hinauf in Kattegat und Skagerrak gingen, vorbei an Kopenhagen und Malmö und wieder zurück über den Großen Belt. Unsere drei MSR fuhren in Kiellinie, das von mir gesteuerte Schiff trug die taktische Nummer 3. Sobald wir internationale Gewässer erreichten, eskortierten uns Schiffe von Nato-Anrainerstaaten. Es war Kalter Krieg und die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa noch fern, die Besatzungen auf den Kriegsschiffen provozierten sich wechselseitig.

Die Nato-Schiffe begleiteten uns weniger aus Sorge, dass wir ihre Territorialgewässer verletzten oder dergleichen. Sie wollten Menschen aus dem Wasser fischen, falls diese über Bord gingen. Fahnenflucht ist überall auf der Welt strafbar. Und in der DDR sollte in einem solchen Falle die Strafe gleich vollstreckt werden: Ich sollte mit unserem Schiff, sofern jemand von den Besatzungen der beiden vor uns fahrenden MSR außenbords ginge, auf den Schwimmer zuhalten. Die beiden Schiffsschrauben machten 750 Umdrehungen. Man musste kein Ingenieur sein, um die Folgen des Manövers zu ahnen. Ich bin nie in der misslichen Lage gewesen, diesen Befehl ausführen zu müssen – unsere Schiffe kehrten stets mit kompletter Besatzung zurück.

Obwohl das lange her ist, beschäftigt mich die Frage noch heute: Wäre ich gefahren, wenn ich gemusst hätte? Ich beruhige mich und sage: nein. Aber so ganz sicher bin ich mir nicht. Es ist Theorie. Seit fünfzig Jahren zerbreche ich mir also darüber den Kopf – was mir zugleich bewusst macht, dass ein Soldat, der geschossen hat oder heute schießen muss, etwa weil er Russe oder Ukrainer ist und das Glück hat zu überleben, vermutlich bis ans Ende seiner Tage dieses Trauma mit sich herumtragen wird, getötet zu haben.

Und darum packt mich stets die kalte Wut, wenn etwa Bundespolitiker vor Kameras und Mikrofonen über Waffen und deren Wirkung schwadronieren und für ihren Export plädieren, ohne jemals im Leben selbst eine Waffe angefasst zu haben und Krieg nur aus dem Kino oder dem Fernsehen kennen. Die Frage von Ex-Kanzlerin Angela Merkel an ihren Interviewer Alexander Osang auf der Bühne des Berliner Ensembles im Juni sorgte zwar für Heiterkeit im Saale, hatte aber durchaus einen tieferen Sinn: »Haben Sie gedient?«

Um nicht missverstanden zu werden: Ich singe nicht das Hohelied auf das Militär – es gibt tausend und mehr Gründe, es abzuschaffen. Nur: Wer jemals dabei war und eine Knarre bediente, weiß, worüber er redet.

Dieses hirnlose Geschwätz der Kriegstrommler in Regierung und Redaktionen erinnert mich an eine Bundespressekonferenz in Bonn am 5. April 1957. Der – im Vorjahr wenige Tage nach seinem 100. Geburtstag verstorbene – Gerd Walleiser stellte an jenem Tag dem Bundeskanzler eine Frage, nachdem dieser über taktische und strategische Atomwaffen parliert hatte, die die Bundeswehr »griffbereit« haben müsse. Walleiser fragte nach der Bedeutung der taktischen Atomwaffen, worauf Konrad Adenauer erklärte: »Die taktischen Atomwaffen sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie, das sind ja besonders normale Waffen in der normalen Bewaffnung.« Adenauer gab damit klar zu verstehen, dass er keine Ahnung von diesen Mordwerkzeugen und deren Wirkung hatte. Er, der nie eine Uniform und darum auch nie eine Waffe getragen hatte, hielt es aber für selbstverständlich, dass die Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen ausgerüstet werden sollte.

Noch hat keine Ministerin, kein Minister oder ein Kanzler nach Atomwaffen gerufen. Aber nach mehr Waffen, nach mehr Mordwerkzeugen schon. Und das augen- und ohrenscheinlich bar jeglicher Sachkenntnis – wie damals in den fünfziger Jahren.

Frank Schumann, Jahrgang 1951, ist als Publizist und Verleger tätig.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal