Winter der Verzweiflung

In Großbritannien steigen die Energiepreise um 80 Prozent. Viele wissen nicht, wie sie das zahlen sollen.

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.
In Großbritannien verteuert sich Energie drastisch. Energiearmut gibt es schon lange. Das Bild von 2018 zeigt einen Arbeitslosen, der nur mit einem kleinen Heizgerät regelmäßig heizen kann.
In Großbritannien verteuert sich Energie drastisch. Energiearmut gibt es schon lange. Das Bild von 2018 zeigt einen Arbeitslosen, der nur mit einem kleinen Heizgerät regelmäßig heizen kann.

Überraschend war die Ankündigung nicht, aber sie schockierte dennoch. Es handle sich um eine »schwindelerregende« Energiepreiserhöhung, sagten manche Kommentatoren, andere sprachen von einem »Hammerschlag für Familien« und warnten vor einer »umfassenden Wirtschaftskrise für tausende Haushalte«. Torsten Bell, Vorsitzender des ökonomischen Thinktanks Resolution Foundation, sagte unumwunden: »Es ist eine totale Katastrophe.«

Am Freitagmorgen gab die britische Energieaufsichtsbehörde Ofgem den Durchschnittspreis für einen Haushalt ab Oktober bekannt. 3549 Pfund sind es, 80 Prozent mehr als aktuell. Ofgem legt jedes Vierteljahr fest, wie viel die Energiebetriebe ihren Kunden maximal für Strom und Gas verrechnen dürfen. Dieser Preisdeckel bezieht sich jeweils auf einen typischen Haushalt mit durchschnittlichem Verbrauch, und er berechnet sich nach dem Preis der Rohstoffe auf dem globalen Markt.

Eigentlich sollte der Preisdeckel dafür sorgen, dass die Energieanbieter ihre Kunden nicht mit überteuerten Rechnungen abzocken – in Großbritannien liegt die Energieversorgung in privaten Händen. Aber jetzt, wo Strom und Gas weltweit teurer werden, sorgt das britische System dafür, dass die hohen Kosten an die Kunden weitergegeben werden. Im vergangenen Winter lag die Obergrenze noch bei knapp 1300 Pfund pro Jahr, im April wurde sie auf 1971 Pfund heraufgesetzt. Jetzt steigt sie nochmal um rund 80 Prozent. Besonders kritisch: Die Preiserhöhung erfolgt just zum Beginn der Heizsaison. Haushalte verbrauchen 80 Prozent ihres jährlichen konsumierten Gases im Winter.

Die Warnungen vor den Folgen der Preiserhöhung sind denn auch dramatisch. Laut einer Schätzung werden manche der ärmsten Familien im Land 47 Prozent ihres gesamten Einkommens für Strom und Gas ausgeben. Die Zahl der Haushalte, die in diesem Winter in die Energiearmut abstürzen werden – die also mindestens zehn Prozent ihres Einkommens für Energie ausgeben müssen –, werde sich im Vergleich zum Vorjahr auf knapp neun Millionen verdoppeln, sagt die Stiftung National Energy Action.

Lokalbehörden im ganzen Land bereiten sich bereits auf einen schweren Notstand vor. Viele planen etwa, in Bibliotheken oder anderen öffentlichen Gebäuden sogenannte »Wärmebanken« einzurichten, also geheizte Räume, in denen Menschen mit kalten Wohnungen Zuflucht finden können.

Schwer wird es insbesondere für Alte. Für solche mit bescheidenen finanziellen Mitteln stehe ein »Winter der Verzweiflung« bevor, sagte Morgan Vine von der Altersstiftung Independent Age. »Viele werden nicht länger wählen müssen, ob sie ihre Wohnung heizen oder eine Mahlzeit essen – sie werden sich weder das eine noch das andere leisten können.« Wenn keine zusätzliche staatliche Hilfe bereitgestellt werde, dann würden mehr alte Menschen wegen Kälte sterben, so Vine.

Von der Regierung werden denn auch dringende Maßnahmen gefordert. Nicola Sturgeon, Erste Ministerin Schottlands, sagte: »Dies ist schlichtweg unerschwinglich für Millionen. Die Erhöhung darf nicht stattfinden.« Stattdessen sollten sich die Regierung und die Energieanbieter auf eine Strategie einigen, wie ein Einfrieren des Preisdeckels längerfristig finanziert werden könne. Auch der Ofgem-Vorsitzende sagte, die Regierung müsse »schnell und entschieden« handeln, um den Briten unter die Arme zu greifen.

Für die Regierung scheint die Energiepreiskrise indes noch kein besonders drängendes Problem zu sein. Weder im Radio noch im Fernsehen legte am Freitagmorgen ein Minister Pläne vor oder nahm zumindest Stellung. Das liegt auch daran, dass die scheidende Regierung von Boris Johnson eigentlich schon eingepackt hat. Johnson versprach am Freitag bloß, dass mehr Hilfe auf dem Weg sei.

Was genau die kommende Regierung zu tun gedenkt, ist nicht klar. Liz Truss, die Spitzenreiterin im Führungskampf und wahrscheinlich nächste Premierministerin, gibt sich eher unverbindlich. Zwar sagte sie kürzlich, sie wolle einen notfallmäßigen Haushaltsplan vorlegen. Doch staatliche Unterstützungsleistungen sind ihr zuwider. Sie zögere, den Verbrauchern »weiteres Geld hinzuwerfen«, sagte sie kürzlich bei einer Wahlveranstaltung.

Allerdings droht die Krise so tief und umfassend zu werden, dass der Regierung wohl keine Wahl bleibt – davon gehen viele Beobachter aus. Denn die Preiserhöhung vom Oktober ist erst der Anfang: Analysten haben berechnet, dass der Preisdeckel im kommenden April auf über 6600 Pfund ansteigen könnte. Die Resolution Foundation schätzt, dass ein durchschnittlicher Haushalt bereits ab Januar 700 Pfund für Strom und Gas im Monat bezahlen muss. »Es ist völlig ausgeschlossen, dass der neue Premierminister nicht Milliarden von Pfund ausgeben wird, um die Energierechnungen unter dem Marktwert zu halten«, schreibt der Vorsitzende Bell.

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