Bangen vor dem Verfassungsreferendum

Chiles Linke sieht sich vor der Abstimmung einer Fake-News-Kampagne ausgesetzt

  • Malte Seiwerth, Santiago
  • Lesedauer: 4 Min.

Die 65-jährige Gabriela Hermosilla meint mit einem Lächeln im Gesicht, »ich habe Hoffnung, dass sich alles ändert.« Seit nunmehr vier Monaten läuft die Basisaktivistin aus Santiago von Haus zu Haus in ihrem Viertel und verteilt an der nächsten U-Bahnstation Flyer, damit am 4. September möglichst viele Menschen der neuen Verfassung zustimmen.

Wenige Tage vor der wohl wichtigsten Abstimmung seit der Rückkehr zur Demokratie in Chile im Jahr 1990 sind die Gemüter im Land erhitzt. Auf der Straße, dem Markt oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln sprechen die Menschen über ihre Wahloption und mögliche Auswirkungen.

Die Kampagne könnte ungleicher kaum sein. Während das rechte Lager mit vollen Kassen in sozialen Medien, Radios, Zeitungen und auf der Straße Werbung macht, ist das Lager der Befürworter*innen fast ausschließlich auf freiwillige Aktivist*innen wie Hermosilla angewiesen. Das chilenische Investigativportal »Ciper« rechnete aus, dass allein bei Facebook mehr als 130 000 Euro für Werbung gegen die neue Verfassung ausgegeben wurden. Dagegen waren es auf der anderen Seite gerade einmal knapp 700 Euro.

Mit Warnungen vor einer angeblichen Spaltung des Landes aufgrund der angestrebten Plurinationalität und Lügen über mögliche Enteignungen macht die Rechte Stimmung gegen die Verfassung. Der Hintergrund ist dabei klar erkennbar: Mit der neuen Verfassung würde das private Geschäft in der Bildung oder dem Gesundheitssektor deutlich eingeschränkt. Der Zugang zu Wasser würde wieder in die öffentliche Verwaltung gelegt und feministische Forderungen, wie ein Recht auf Abtreibung oder Genderparität, wären durch die Verfassung zugesichert. So wettern vor allem Unternehmer*innen und konservative Kreise gegen die neue Verfassung.

Trotz der Umfragen, die derzeit einen mehr oder weniger knappen Sieg des Lagers der Gegner*innen vorhersehen, ist Hermosilla zuversichtlich: »Viele Menschen, gerade die jüngeren, sind der neuen Verfassung gegenüber positiv eingestellt«, meint sie. Das habe sie beim Verteilen der Flyer erlebt. Die Umfragen dagegen würden vor allem ältere Leute in Betracht ziehen, bei denen mehrheitlich die Angst vor Veränderung überwiegt.

Die neue Verfassung ist der bisherige Höhe- und Wendepunkt der politischen Veränderungen, die seit der sozialen Revolte von Oktober 2019 angestrebt werden. Nachdem über mehrere Monate Millionen von Menschen gegen das neoliberale Wirtschaftssystem und für eine neue Verfassung protestierten, wurde diese von Juli 2021 bis Juli 2022 von einem demokratisch und genderparitär gewählten Verfassungskonvent neu entworfen. Umweltaktivist*innen, Feminist*innen, Linke und Indigene Abgeordnete hatten dabei eine Zweidrittelmehrheit und konnten dadurch der Verfassung einen sozialdemokratischen, ökologischen, feministischen und indigenen Charakter geben.

Die seit März 2022 regierende linksreformistische Regierung unter Gabriel Boric hat sich auf die Fahne geschrieben, den verfassunggebenden Prozess zu fördern und baut das eigene Regierungsprogramm auf Artikeln der neuen Verfassung auf. In einem jüngst publizierten Interview in der »Time« sagte der Präsident, dass mit einer Ablehnung der neuen Verfassung ein Teil der eigenen Agenda auf der Kippe stehen würde. Zwar darf die Regierung offiziell keine Position in der Abstimmung beziehen – doch angesichts der Lügen durch die Gegner*innen startete die Regierung eine breit angelegte Informationskampagne. Das wurde von den Gegner*innen als Eingriff in das Abstimmungsgeschehen interpretiert.

Die alte Verfassung, noch aus Zeiten der Diktatur, galt schon bei vorherigen Reformregierungen, wie der von Michelle Bachelet (2006–2010 und 2014–2018), als Hindernis für eine Überwindung einzelner Elemente des chilenischen Neoliberalismus. Daher ist es auch kein Wunder, dass die soeben aus ihrem Amt geschiedene Hochkommissarin für Menschenrechte der Uno, Michelle Bachelet, persönlich für eine Annahme der Verfassung wirbt. Wichtige Politolog*innen und Rechtswissenschaftler*innen wie Javier Couso warnen zudem vor einer politischen Instabilität, die durch eine Ablehnung geschaffen würde.

In Chile ist gerade die politische Linke gut organisiert und besitzt ein hohes Mobilisierungspotenzial. Dies zeigte sich zuletzt auch bei den Abschlusskundgebungen für die Abstimmung. Während in verschiedenen Städten mehrere Zehntausend Menschen zu den Demonstrationen und öffentlichen Konzerten für die neue Verfassung gingen, kamen zu den Gegenkundgebungen nur wenige Hundert.

Für Hermosilla besteht daher keine Frage, dass sie am Sonntag feiern kann. »Ich erwarte einen knappen Sieg, aber es ist klar, wir werden gewinnen.« Um das auf allen Ebenen zu ermöglichen, organisiert sie derzeit die Wahlbeobachter*innen in ihrer Gemeinde. Bei der Auszählung wird sie um die Interpretation jedes unklaren Stimmzettels kämpfen.

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