Ausgebrannte 112

Die Berliner Feuerwehr arbeitet am Limit und fordert im Innenausschuss Entlastung

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Kind hat sich geschnitten, die Mutter wählt 112, am Telefon spricht sie aufgeregt von einer schweren Blutung. Vor Ort finden die Rettungskräfte eine kleine Schnittverletzung vor, ein Pflaster reicht zur Versorgung aus. So beschreibt Oliver Mertens, Landesbezirksvorstand der Gewerkschaft der Polizei (GdP) einen typischen Einsatz der Rettungsdienste der Feuerwehr. Am Montag sitzt er zusammen mit Lars Wieg von der Deutschen Feuerwehrgewerkschaft Berlin-Brandenburg, dem Vorsitzenden der Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands, Florian Reifferscheid, und Sascha Guzy aus dem Berliner Landesfeuerwehrverband im Innenausschuss, um über die akute Notlage der Berliner Feuerwehr zu reden.

Seit Monaten befindet sich der Rettungsdienst im täglichen Ausnahmezustand. Das bedeutet: Ein- oder mehrmals am Tag steht kein freier Rettungswagen zur Verfügung. Das bedeutet auch: Der Rettungsdienst arbeitet am Limit, ein Wagen in Kreuzberg fährt laut Wieg schon mal 32 Einsätze in 24 Stunden. »Wir haben den Zenit überschritten, ich erlebe wesensveränderte Kollegen, die sind ausgebrannt«, so Mertens. Wieg nennt es ein »dramatisches Zusammenbrechen« und eine »extreme Belastungssituation«. Wenn sich nicht bald etwas ändere, müsse man den Menschen in Berlin erklären, dass ihre Sicherheit nicht gewährleistet sei. Bisher ist zwar noch niemand aufgrund eines fehlenden oder verzögerten Krankenwagens gestorben, doch können ein paar mehr Minuten Wartezeit bereits über Leben und Tod entscheiden.

Ein Grund für die Überlastung sind Notrufe, die sich als Bagatellen herausstellen. Eigentlich gibt es noch die Notrufnummer 116117, auch bekannt als ärztlicher Bereitschaftsdienst, die bei kleineren Beschwerden rund um die Uhr Beratung anbietet – theoretisch. Wieg von der Feuerwehrgewerkschaft erzählt von einem Selbstversuch, wo er nach einer Dreiviertelstunde aus der Warteschleife fiel.

Also bleibt am Ende nur die 112? Hier kommt die Leitstelle ins Spiel, die Anrufe bewertet und entsprechend weiterleiten soll. Bereits Anfang des Jahres hatte die Innensenatorin Iris Spranger (SPD) eine Evaluierung der Einsatz-Codes in die Wege geleitet, um mehr Anrufe auszusortieren. Für den sogenannten Code-Review kündigt sie in der Ausschusssitzung an, ein eigenes Gremium mit Beteiligten aus den unterschiedlichen Bereichen der Notärzt*innen, Rettungsdienste und Krankenhäuser zu gründen. Dass es Bedarf nach einer Revision gibt, zeigen die Zahlen. Laut Wieg sei die Anzahl jährlicher Anrufe seit 2006 nur um sieben Prozent gestiegen, die Anzahl der Rettungswagen-Einsätze jedoch um 60 Prozent.

Die geladenen Experten denken weiter: Sie fordern eine Leitzentrale, die die möglichen Anlaufstellen direkt miteinander verknüpft. »Die Leitstelle benötigt mehr Optionen, als nur zwischen Rettungswagen mit und ohne Blaulicht zu entscheiden«, sagt etwa Reiffenscheid von der Notarzt-Vereinigung. So müsste überlegt werden, neben einer geregelten Übergabe bestimmter Codes an die Kassenärztliche Vereinigung auch sozialpsychiatrische Dienste miteinzubinden.

Andere Ansätze, die bereits im Raum stehen, betreffen eine Änderung des Rettungsdienstgesetzes, finanzielle Entlastung, indem etwa die Feuerwehrzulage auch im Ruhestand gezahlt wird, die Option der Videotelefonie in der Leitstelle, um einen Notfall im Vorfeld besser einschätzen zu können und eine Kampagne für mehr Eigenverantwortung bei kleinen Verletzungen.

Doch keiner dieser Vorschläge behebt das grundlegende Problem des Fachkräftemangels. Spranger betont zwar, dass sich die Zahl der Nachwuchskräfte von 2015 bis jetzt auf über 300 verdoppelt hätte und ihre Verwaltung weiterhin das Ziel von 500 Auszubildenden jährlich verfolge. Doch der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Vasili Franco, stellt fest, dass das Personal der Steigerung an Einsätzen hinterherhinkt. »Wir fahren dauerhaft unter dem Soll. Das ist ein Problem, das uns noch für Jahre begleiten wird.«

Ein Problem, das dem gesamten Gesundheitssektor zu schaffen macht, wie Mertens von der GdP betont. Fehlende Kapazitäten in den Krankenhäusern würden sich bei den Rettungsdiensten bemerkbar machen, die dann von einer Notaufnahme zur nächsten fahren. Auch wählten manche Patienten lieber die 112, als mehrere Monate auf einen Arzttermin zu warten. Zugleich würden die Rettungsdienste auch Menschen ins Krankenhaus bringen, die eigentlich ambulant behandelt werden könnten. »Aber das kann den Einsatz um 90 Minuten verzögern, ein Transport ins Krankenhaus dauert nur 15 Minuten.« So verschiebe sich die Überlastung von einer Stelle zur anderen. Die Innensenatorin befürwortet deshalb einen Runden Tisch zusammen mit der Gesundheitsverwaltung.

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