Nicht mehr zeitgemäß

Das Design des Strommarktes passt weder zur Energiewende noch zu hohen Gaspreisen

  • Jörg Staude
  • Lesedauer: 5 Min.

Stromhändler könnten in diesen Tagen graue Haare bekommen. Wer sich an der Strombörse in einem sogenannten Termingeschäft eine Megawattstunde – das sind eintausend Kilowattstunden – zu Anfang 2023 bestellte, musste tief in die Tasche greifen und teilweise mehr als 1000 Euro hervorholen. Jetzt stürzte der Kurs wieder auf 575 Euro ab. Ob das eine Trendumkehr bei den Energiepreisen bedeutet, ist jedoch ungewiss.

Denn an der Börse werden Erwartungen gehandelt. Niemand weiß wirklich, was der Strom in den kommenden Wochen oder gar Jahren kosten wird. Dazu gibt es zu viele Unbekannte. Wird das Gas wegen des Krieges so teuer bleiben? Werden die französischen Atomkraftwerke bald wieder wenigstens genug Wasser zum Kühlen haben? Werden die Winde in deutschen Landen so schwach wehen wie 2021, wo das Aufkommen an Windstrom ein Viertel unter dem langjährigen Schnitt lag? Und vor allem: Wird der Winter kalt? Auch so etwas kann es ja – Klimawandel hin, Klimawandel her – in Mitteleuropa noch geben. Ein milder Winter ist bekanntlich das beste Anti-Putin-Mittel.

Auch der Strommarkt selbst ist eine Black Box – und das bei einem Produkt, das wie Wasser, Wohnen oder Zugang zu Mobilität eigentlich zur Daseinsvorsorge gehört. Elektrizität ist nicht nur ganz zentral fürs Funktionieren der modernen Gesellschaft, sie ist auch noch äußerst leichtverderblich und kann nur mit enormem Aufwand und unter Verlusten »aufgehoben« werden. Das hindert Börsenhändler aber nicht daran, Strommengen hin- und herzuschieben, sich ganze Kraftwerksleistungen zu sichern – oder auch nicht, wenn man sich daraus Gewinne verspricht.

Selbst große Stromerzeuger kaufen, um ihre Lieferzusagen einzuhalten, Strom von Dritten ein, wenn er billiger ist als die eigene Erzeugung. Die Strombörse selbst spiegelt noch nicht einmal den ganzen spekulativen Wahnsinn wider. Ein Großteil des Geschäfts wird in zweiseitigen sogenannten Over-the-Counter-Geschäften abgewickelt. Was dort an Strommengen und Preisen über den Tisch geht, davon erfährt die Öffentlichkeit so gut wie nichts. Und am Ende ist der ganze Stromhandel nur ein virtueller. Beim Strom kann man gern ein supergrünes oder, wenn man es für sinnvoll hält, ein atomar-fossiles Produkt kaufen – man wird immer den Strom bekommen, der in der nächstgelegenen Erzeugungsanlage produziert wird. Das ist Physik.

Und weil der Strom der Physik folgt, müssen allen Handels zum Trotz am Ende Bedarf und Angebot so ziemlich genau auf die Kilowattstunde ausgeglichen sein, auch, damit die wichtige Frequenz von 50 Hertz eingehalten wird. Auch dafür gibt es wieder Händler, die auf die Minute genau Strommengen zum Ausgleich anbieten. Und manchmal ist es den Jongleuren am Strommarkt zu teuer, diese flexible Leistung einzukaufen. Dann sind sogar Blackouts nicht ausgeschlossen.

Aus dem Börsenmechanismus erklärt sich auch die Macht der sogenannten Merit Order, die des letzten Kraftwerks, das noch gebraucht wird, um zu jeder Zeit die Stromnachfrage möglichst genau abzudecken. Die Kosten dieses Kraftwerks – zurzeit sind es eben meist teure Gasanlagen – können sich dabei auch alle anderen Kraftwerke gutschreiben lassen. Denn jedes einzelne wird gebraucht, um den Strombedarf frequenzstabil zu decken. Da darf keines fehlen, und weil alle gleichermaßen gebraucht werden, hat ihr Strom denselben »Wert« und sie können dann auch den Preis des teuersten Kraftwerks verlangen – so ist die Marktlogik.

Diese Macht des letzten Kraftwerks ist auch eine Folge der Liberalisierung des Strommarktes. Denn an der Börse zählt am Ende nur der Preis des Produkts. Die Strommengen werden dort so lange in der Rangfolge des Preises abgerufen, bis Bedarf und Angebot deckungsgleich sind – ob der Strom beispielsweise grau (Börsen-Strommix), grün (erneuerbar), rot (atomar) oder schwarz (fossil) ist, ist der Börse ziemlich egal.

Diese Marktlogik allein funktioniert aber nur solange auch im Interesse des Verbrauchers, solange Strom im Überangebot vorhanden ist. Kippt der Markt, weil Gas exorbitant teuer ist, französische AKW reihenweise ausfallen, Wasserkraftwerken aufgrund von Dürre das Wasser fehlt oder niedrige Pegelstände Kohletransporte behindern, dann explodieren die Preise. Die Kraftwerksbetreiber, die ganz ohne ihr Zutun in der Merit Order plötzlich ganz vorn stehen, können dann Zusatzgewinne in Milliardenhöhe einstecken.

An die will die Bundesregierung jetzt ran, um Entlastungen beim Strompreis zu finanzieren. Dabei ist noch recht unklar, wie hoch diese Zusatzgewinne überhaupt sind und wie diese zu den Stromkunden »umgelenkt« werden können. Gerade brüten noch, wie zu hören ist, ganze Institute über entsprechende Studien. Selbst Marktinsider halten die Merit Order, die alle Energieformen gleichbehandelt, für die jetzige Lage am Markt als auch für einen künftigen Energiemarkt auf Basis erneuerbarer Energien für fehl am Platze.

Ein Strompreis von 500 Euro für die Megawattstunde oder mehr löst an der Börse eher nur Panik aus, als dass er sinnvolle Aktionen bewirkt. Bei solchen Preisen werden auch – wie das neue 65-Milliarden-Ampel-Paket zeigt – Entlastungen in absurden Größenordnungen notwendig, um Unternehmen und Haushalte durch die Krise zu bringen. Eine Änderung des Grundübels – der Merit Order – plant die Bundesregierung allerdings vorerst nicht. Auch die EU-Kommission lehnt dies bisher ab.

Zumindest in und für Deutschland passt die Herrschaft der Börse aber nicht länger zu den politischen Zielen bei Energiewende und Klimaschutz. So will die Ampel-Regierung laut Koalitionsvertrag ein »klimaneutrales Stromsystem« schaffen, den Markt also danach ausrichten, ob der Strom grün, schwarz, rot oder grau ist. Dazu würde es beispielsweise gehören, endlich eine regionale Grünstromvermarktung zu ermöglichen. Ökostrom könnte auf dem kürzesten Weg vom Erzeuger zum Verbraucher geliefert werden. Dieses Prinzip würde in den Netzen den Vorrang bekommen und nicht die preisgetriebene Merit Order.

So eine verbrauchsnahe und direkte Vermarktung von echtem Ökostrom würde es auch erleichtern, die Kostenvorteile der Erneuerbaren an Verbraucher weiterzugeben. Börse und preiswerter Ökostrom – das passt eben nicht zusammen. Die Macht im Stromsystem muss den Händlern genommen werden. Alles andere ist Flickwerk.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -