Wunden, die nie heilen

Im winzigen Dorf Casares im Nordwesten Spaniens hat fast jeder in der Zeit der Franco-Diktatur Angehörige verloren

  • Michael Uhl
  • Lesedauer: 8 Min.
Casares de Arbás: Im winzigen Dorf Casares im Nordwesten Spaniens hat fast jeder in der Zeit der Franco-Diktatur Angehörige verloren
Casares de Arbás: Im winzigen Dorf Casares im Nordwesten Spaniens hat fast jeder in der Zeit der Franco-Diktatur Angehörige verloren

Casares de Arbás ist selbst Inländern kein Begriff. Das winzige Dorf liegt versteckt zwischen silbergrauen Felsen. Der Flecken hat ein markantes Profil: 1300 Meter über dem Meeresspiegel, 50 Seelen, von denen im Winter nur sieben hier ausharren, und eine Vergangenheit, die einem die Haare zu Berge stehen lässt. Das Ein-Sterne-Hostal »González« hat schon bessere Zeiten erlebt. Matilde, die Chefin, rackert sich von frühmorgens bis spätabends ab. Ihre Zimmer sind blitzblank, die Preise unschlagbar. Für wenig Geld bekommt man ein einfaches, aber schmackhaftes Menü. Sie steht in der Küche und frittiert Frisuelos, eine Art Pfannkuchen. Manchmal muss Matilde sich für einen Moment hinsetzen. Sie ist nicht mehr die Jüngste und beginnt den Tag mit einem bunten Schmerzmittel-Cocktail. Es sei kein Körperteil mehr übrig, an dem sie nicht schon operiert worden sei, seufzt sie.

Tomás, ihr Mann, steht breitschultrig hinter dem Tresen. Früher hatte er Kühe. Heute züchtet er Zugpferde der Rasse Hispano-Bretón. Allein, wohlgemerkt. Mit einer Hand schleppt er nach dem Mähen schwere Heuballen quer über das Feld. »Voy a mear« – »Ich geh’ schiffen«, verabschiedet er sich hinter ein Gebüsch. Er ist 82 Jahre alt. Ein beinharter Mann, der nicht viel redet. »Yo qué sé« – »Was weiss ich«, antwortet er auf meine Frage, welchen Namen das neugeborene Fohlen bekommen soll. Tomás ist der Presidente von Casares. Er managt hier alles, von der Bartheke bis zum Friedhof.

Casares liegt in einem von Kalkstein umrahmten Tal, das zu Villamanín gehört. Die Gemeinde befindet sich in Nordspanien am oberen Rand der Provinz León, dicht an der Grenze zur Küstenregion Asturien. Die Menschen fühlen sich als halbe Asturier. Über Tomás’ Theke hängt deshalb neben einem Wappen mit dem roten Löwen von León auch das gelbe asturische Kreuz auf blauem Grund.

Jeden Nachmittag um vier trudeln Álvaro, Horacio, Santiago und Servando ein. Dann wird bei Tomás und Matilde »Tute« geklopft, ein beliebtes Kartenspiel mit spanischem Blatt. Das Verliererduo bezahlt den Kaffee und Schnaps. In gebügelten Hemden, Wollhosen und Leinenschuhen mit Bastsohle sitzen die Ruheständler beisammen. »¡Juega, hombre!« – »Spiel schon!«, schreit Horacio seinen Nachbarn an. Er meint es nicht böse. Servando ist taubstumm. Casares schrumpft unaufhaltsam. Die jungen Leute zieht es in die Stadt. Überall stehen leere Häuserruinen, auf denen sich Gras ausbreitet. Die Kartenrunde bangt um ihre Zukunft.

Mitte August feiert das Dorf sein Patronatsfest. Dann wird bis in den Morgen getanzt und gebechert. Sogar eine Prozession zu Ehren einer Jungfrau, an die hier kein Mensch glaubt, findet statt. Ein Priester rückt aus der fernen Stadt an. Die rustikale Kirche befindet sich direkt hinter dem Hostal »González«. Einen Steinwurf entfernt gibt es noch eine kleine Kapelle mit schießschartenartigen Fenstern: die Ermita de San Roque. Am 12. September 1937 waren in ihr sieben Dorfbewohner von den Putschisten eingesperrt worden. Im Dunkeln warteten sie auf ihre Hinrichtung. Der Dorfpriester gab seinen Segen. Der Bischof von Salamanca hatte in einem Hirtenbrief zum Kreuzzug gegen die gottlosen »Roten« aufgerufen. Nach Sonnenaufgang wurden die Gefangenen auf Lastwagen verladen und ins Nachbardorf Cubillas abtransportiert, wo sie an die Wand gestellt und erschossen worden sind.

Anfang 1938 wiederholte sich das grausige Spektakel. Dieses Mal zwang man die Todgeweihten im offenen Gelände an einer Stelle, die Peña Redonda genannt wird, ihr eigenes Grab auszuheben. Nach der ersten Salve soll Daniel am Boden noch gezuckt haben. Man habe ihm daraufhin die Kehle durchgeschnitten und den Kopf vom Rumpf abgetrennt, berichtet dessen Enkel. Am Ende hatte das Dorf 38 Tote zu beklagen. Isardo, der Jüngste war gerade mal 14 Jahre alt. Ihre Skelette liegen heute noch irgendwo zwischen Casares und Poladura in der Erde und harren einer würdevollen Bestattung. Nach Kambodscha hat das Urlaubsland Spanien die meisten Massengräber der Welt.

Die Hintergründe sind gut erforscht. Am 18. Juli 1936 hatten sich rechtsgerichtete Militärs unter General Francisco Franco einen Staatsstreich gegen die linke Volksfront-Regierung der Spanischen Republik verübt und einen Bürgerkrieg entfacht. Wie überall im Land, stürmte auch in Casares in jenem Sommer eine aufgebrachte Menschenmenge die Dorfkirche. Das Gotteshaus galt als Symbol der alten Ordnung und als Bastion der Putschisten. Vor der Kirchentreppe gingen Heiligenfiguren in Flammen auf. Im Gegensatz zu anderen Orten wurde dem Priester von Casares aber kein Haar gekrümmt. Selbst Viehzüchter, die mit der faschistischen Falange sympathisierten, kamen ungeschoren davon.

Die Hirten und Tagelöhner von Casares blieben der Regierung in Madrid treu. Sie bildeten im Dorf einen Kriegsrat. Waffenfähige Männer aus dem Dorf schlossen sich der Miliz der Anarchisten an, die innerhalb der spanischen Arbeiterbewegung damals den Ton angaben. Sie leisteten hartnäckigen Widerstand gegen eine professionelle Armee, die von Hitler und Mussolini unterstützt wurde. Die Front zwischen den Republicanos und den Nacionales verlief zwischen Casares und dem weiter südlich gelegenen Ort La Robla. Mit dem Vorrücken der Franco-Truppen flohen Tomás’ Eltern über einen Gebirgspass nach Asturien. Die Minenarbeiterregion war die letzte republikanische Bastion an der Nordfront. Als sie im Oktober 1937 fiel, gab es für die Flüchtlinge aus Casares keine Hoffnung mehr.

Unter Franco ging es Casares dreckig. Nur ein Nachbar, der Einwohner an die Polizei verriet, habe immer Brot auf dem Tisch gehabt, knurrt Tomás. Und als in der Nachkriegszeit die Guardia Civil auf Pferden einritt, klappten die Fensterläden zu. Wer aus Casares kam, stand im Ansehen der Polizei von Villamanín ganz unten. Über die blutig niedergeschlagene Volksfrontrepublik wurde nicht viel gesprochen. Die Angst vor Repressionen steckte den Einwohnern auch nach dem Tod des Diktators noch in den Knochen. Viele wanderten aus. Auch Tomás’ Schwester, die im französischen Grenoble lebt. Gerade ist Elías aus Mexiko zu Besuch. Seine Familie ist mit Matilde verwandt. Er ist nicht der einzige Amerikaner im Dorf.

Ramón, ein Klassenkamerad von Tomás, der aus Argentinien in die Heimat zurückgekehrt ist, bestellt am Tresen einen Chupito, einen cremigen Likör. Als ich an der Theke auf die Zeit der »Säuberungen« zu sprechen komme, geraten die Leute außer sich. Fast jeder hier hat Angehörige verloren. Wunden, die nie heilen. Zwei Onkel von Tomás wurden hingerichtet. Einer von ihnen hatte der anarchistischen Gewerkschaft CNT angehört und im Bataillon »Asturias« gekämpft. Tomás’ Grossmutter Prudencia kam nach dem Bürgerkrieg im Gefängnis ums Leben. Wegen nichts, wie Tomás sagt.

Der Presidente von Casares will die verscharrten Ermordeten des Dorfes exhumieren lassen. Den rechtlichen Rahmen für die späte Aufarbeitung des Franquismus bildet ein Gesetz über die
»historische Erinnerung«. Es wurde 2007 unter dem sozialistischen Präsidenten José Zapatero
erlassen. Sein konservativer Nachfolger Mariano Rajoy legte das Gesetz auf Eis. Der jetzige Amtsinhaber Pedro Sánchez will die »demokratische Erinnerung« fortführen.

Jeden Tag studiert Tomás, der nur wenige Jahre zur Schule ging, die Tageszeitung von León, um sich auf dem Laufenden zu halten. Wenn im Fernsehen der spanische König erscheint, schaltet er den Apparat aus. Tomás ist Republikaner. Sein Mitgliedsbüchlein der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei wird er mit ins Grab nehmen.

Pili, eine Cousine von Tomás, zeigt mir alte Patronen. Die kleinen stammen von einem Mauser-Karabiner, die großen von einem Maschinengewehr. Sie gehörten einmal Modesto Martínez Cañón. Er hatte als Einziger aus der Ermita fliehen können. Sein Vater Florentino wurde erschossen. Modesto schwor Rache. Er zog sich auf die Berggipfel zwischen Casares und dem Nachbardorf Folledo zurück. Er war der Letzte aus Casares, der Franco die Stirn bot. Zwei Jahre lang versteckte er sich in einer Höhle. Tomás führt mich an diesen Ort. Alfredo, ein junger Viehzüchter, zeigt uns den Weg. Sein Großvater hieß auch Alfredo. Er wurde von Falangisten (Faschisten) erschossen. Donato, dem zweiten Großvater von Alfredo Junior, wurden im Schulgebäude von Casares, das heute anderen Zwecken dient, die Zähne ausgeschlagen. Er starb an den Folgen seiner Verletzungen.

Der Aufstieg zur Höhle ist steil und beschwerlich. Wir stoßen auf Bombenkrater. In der Hauptstadt der Provinz waren deutsche Piloten der Legion Condor stationiert. Modesto war jung und muskulös, erfahre ich. Er hatte glattes schwarzes Haar. Da Modesto gut reden konnte, war er nach dem Bekanntwerden des Militärputsches zum Sprecher des Dorfrates gewählt worden. Als Hirte kannte er die Gegend wie seine Westentasche. In seiner Höhle trotzte er der Kälte und Einsamkeit. Ab und zu verschwand ein Schaf in der Gegend – alle waren im Bilde. Aber niemand im Dorf verriet ihn. Seine Geliebte wurde von ihm schwanger und musste abtreiben. Am Ende ergab er sich. Wie in einem Western soll er während einer Messe in
Casares erschienen sein und seine Waffen zu Boden geschleudert haben. Modesto kam mit dem Leben davon: Man steckte ihn ins Gefängnis. Nach seiner Freilassung erlebte er noch das Ende der Diktatur. Dann starb er, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Auch ein Foto von ihm gibt es nicht.

Mich hat es auf der Flucht vor der Hitze nach Casares verschlagen. Über dem Tal weht immer eine frische Brise. Wer ein wenig Nebel verträgt und vom urbanen Trubel genug hat, wird die ruhige, idyllische Gegend zu schätzen wissen. Ein kleiner Bach hat dem Dorf seinen Namen gegeben. Touristische Attraktionen gibt es nicht. Aus dem Projekt eines Campingplatzes wurde nichts. Ein großzügig angelegter Stausee entstand 2002 als Teil eines Stauwerks für ein kleines Wasserkraftwerk. Die Einheimischen seien dagegen gewesen, erklärt Antonio, der für eine Elektrizitätsfirma arbeitet. Die Besitzer der Parzellen wurden enteignet, ihre Entschädigung war eher symbolisch. Inzwischen haben sie sich mit dem See abgefunden. Sein Wasser ist klar. Aber außer mir käme niemand auf den Gedanken, sich darin abzukühlen. Matilde und Tomás behandeln mich bereits wie einen der ihrigen. Das ganze Dorf ist stolz auf seinen Forastero, seinen Fremden. Alle grüßen mich. Ab und zu muss ich beim Kartenspiel einspringen. Nach langem Zögern habe ich mich durchgerungen, meinen Taschencomputer auszupacken. Ich tippe mit schlechtem Gewissen. Meine Reiseberichterstattung, so scheint es mir, zerstört die Unberührtheit. Aber wer könnte den Leuten von Casares einen Gefallen abschlagen.

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