»Ich bin zwar blind, aber ich kann gut hören«

Museumsguide Anne Petrine Waagö über das Leben mit und ohne Sehsinn

  • Julia Hummer
  • Lesedauer: 7 Min.
Als Guide im Dialogmuseum stellt Anne Petrine Waagö Klischees über Blindheit infrage.
Als Guide im Dialogmuseum stellt Anne Petrine Waagö Klischees über Blindheit infrage.

Frau Waagö, Sie arbeiten im Frankfurter Dialogmuseum. Was erleben Besucher*innen dort?

Interview

Anne Petrine Waagö arbeitet seit 2012 im Dialogmuseum in Frankfurt am Main. Dort führt sie Menschen durch eine interaktive Ausstellung ohne Licht. Dieser »Dialog im Dunkeln« durchbricht Wahrnehmungsgewohnheiten, stellt Klischees über Blindheit infrage und lädt die Besucher*innen zum Austausch ein.

In der Ausstellung »Dialog im Dunkeln« führen blinde oder sehbehinderte Menschen kleine Gruppen durch einen erlebnisreichen Parcours. Natürlich ist es dabei so dunkel, dass niemand etwas sehen kann. Wahrnehmen kann man trotzdem ganz viel: Die Räume haben Themenschwerpunkte wie Stadt und Natur und sind voller Geräusche und tastbarer Gegenstände. So bekommen sehende Menschen einen Eindruck von der Sinneswahrnehmung und Lebensrealität blinder Menschen. Gleichzeitig lernen sie viel über ihre eigene Wahrnehmung. In der Dunkelbar können die Besucher*innen anschließend testen, wie zum Beispiel ein Orangensaft schmeckt, von dem sie nicht wissen, ob er wirklich gelb ist.

Sie arbeiten selbst als Guide im Museum. Was erleben Sie dort?

Ich sage immer: Die Ausstellung ist ein Eisbrecher. Während der 60 Minuten ohne Licht sind eine andere Kommunikation und ein besonderes Vertrauen gefragt. Oft verlassen die Besucher*innen das Museum und haben das Gefühl, sich schon ewig zu kennen. Letztens sind die Personen aus einer Gruppe nach der Führung noch zusammen essen gegangen, obwohl sie sich vorher noch nie gesehen hatten. Auch einen Heiratsantrag haben wir im Museum schon erlebt.

Wollten Sie schon immer im Museum arbeiten?

Ich habe Germanistik und Anglistik studiert und die typischen Dinge nebenbei gemacht: als Lektorin gearbeitet, Praktika bei Zeitungen absolviert und sogar mal einen Roman angefangen. Der liegt schon länger zuhause und muss irgendwann mal fertig werden. Aber momentan schätze ich meine Arbeit im Dialogmuseum sehr. Wir leisten hier einen enorm wichtigen Beitrag zur Aufklärung, Inklusion und Barrierefreiheit in Bezug auf Blindheit.

Können Sie das genauer erklären?

Es gibt etwa 580 000 blinde und sehbehinderte Menschen in Deutschland. Viele sehende Menschen wissen gar nicht, mit welchen Problemen blinde Menschen im Alltag konfrontiert sind: Leitlinien auf dem Boden, die einfach mitten auf einem Platz aufhören oder Ampeln, die nicht barrierefrei sind. Nervig sind auch die Elektroroller, wenn sie mitten auf dem Gehweg stehen. Solche Dinge thematisieren wir bei den Führungen. Das schafft Awareness. In unserem digitalen Gästebuch haben wir häufig Feedback wie: »Der Besuch hat mir die Augen geöffnet!« Oder: »Die Ausstellung veränderte meine Sichtweise.« Und genau darum geht es hier.

Wäre es gut, wenn noch viel häufiger über diese Themen gesprochen wird – auch außerhalb des Dialogmuseums?

Ja, das wäre wünschenswert. Wir haben sehr viele engagierte Schulklassen zu Besuch, die sich vorher gut vorbereiten. Aber auch unabhängig von einem Ausflug zum Dialogmuseum könnten Schulen Blindheit und Barrierefreiheit in allen möglichen Fächern thematisieren: Politik und Wirtschaft, Sozialkunde oder auch Informatik. Das passiert nicht überall. Also kein Wunder, dass viele Menschen auf der Straße überfordert oder verunsichert sind, wenn sie einer blinden Person begegnen.

Wäre es denn okay, einer fremden, blinden Person einfach ungefragt Hilfe anzubieten?

Es ist schwierig, das allgemein zu sagen. Blinden Menschen sieht man eigentlich gut an, ob sie Hilfe benötigen. Normalerweise sind wir recht zielstrebig unterwegs und kennen unsere Wege. Wenn man sich also kurz die Zeit nimmt und beobachtet, ob jemand stehen bleibt, zögerlich ist oder orientierungslos aussieht, dann ist es okay, die Person anzusprechen. Nur wenn ich dann antworte, dass ich keine Hilfe brauche, dann meine ich das auch so. Das akzeptieren nicht alle. Definitiv übergriffig ist es aber, jemanden einfach anzufassen. Tatsächlich passiert das häufig: Menschen schnappen sich ungefragt meinen Arm an der Ampel und ziehen mich über die Straße. Oder laufen mir hinterher, weil sie unbedingt helfen wollen. Dabei ist es ganz einfach: Auch bei blinden Menschen heißt ein Nein eben Nein.

Kommt es auch vor, dass Menschen ihre Hilfe verweigern?

Ja, das andere Extrem sind Menschen, die sich quasi »tot stellen« und so tun, als seien sie nicht da. Ich stand mal an der Bushaltestelle und fragte eine Person nach der Buslinie. Obwohl ich direkt neben ihr stand, hat sie nicht geantwortet. Das ist eine echt merkwürdige Situation. Ich fragte dann noch mal und sagte: »Hallo, ich merke, dass Sie neben mir stehen. Könnten Sie mir bitte antworten? Ich bin zwar blind, aber ich kann gut hören.« Darauf hat sie schließlich reagiert. Ich weiß, dass so ein Verhalten nicht böse gemeint ist. Genau diese Unsicherheiten thematisieren wir offen und ehrlich in der Ausstellung.

Wie gut ist Frankfurt denn aufgestellt in Sachen Barrierefreiheit für blinde Menschen?

Gut ist immer, wenn die Stadt etwas Neues baut. Denn dann wird Barrierefreiheit meistens mitgedacht und in den Bau integriert. Aber nur, um sie blindengerecht zu machen, stellt die Stadt keine neue Ampel auf. Das ist echt ein Problem. Der Straßenverkehr ist gefährlich und ich kann mich nicht auf die anderen Menschen um mich herum verlassen. Die können bei Rot schnell rüber laufen – ich kann das natürlich nicht. Gerade wenn die Umgebung sehr laut ist, ist das ein großes Hindernis für blinde Menschen. Auch Leitlinien, die auf eine Mauer zulaufen, gibt es hin und wieder. Das ist aber kein spezifisches Frankfurt-Problem.

Wo funktioniert die Infrastruktur besser?

Eine Vorzeigestadt ist Marburg: Dort gibt es seit 1916 ein Gymnasium für blinde Menschen. Darauf hat sich die Stadt eingestellt. Jede Ampel ist barrierefrei, die Busfahrer*innen rufen beim Halten kurz raus: »Ich bin die zwei!« Das sind Kleinigkeiten, die man leicht umsetzen kann. Außenlautsprecher bei Bussen wären super. Zwar kann ich auch die App benutzen, aber es gibt ja häufig Verkehrschaos oder Verspätungen. Zum Glück begegnen mir immer wieder sehr hilfsbereite Menschen. Auf die bin ich angewiesen, wenn die Infrastruktur versagt.

Und wie sieht es mit digitaler Barrierefreiheit aus?

Ein paar Aspekte sind wichtig: Zu grafische und überladene Seiten erschweren mir das Verstehen, denn Screenreader lesen die Texte auf Webseiten aus. Je einfacher die Struktur der Seite, desto schneller ist mir alles klar. Bilder funktionieren gut über Alt-Texte (eine kurze Bildbeschreibung, Anm. d. Red.). Da hilft es, wenn alle wichtigen visuellen Informationen einfach und ausführlich beschrieben sind. Ansonsten sind Verlinkungen über Buttons gut. Wenn es die nicht gibt, wird es mit dem Screenreader schwierig. Solche Hürden begegnen einem ziemlich oft. Zum Beispiel war die Website zur Impfterminvergabe nicht barrierefrei. Die Verantwortlichen hatten auf der Seite sogar darauf hingewiesen, dass sie nicht blindengerecht sei und dass man die Hotline nutzen solle. Bei etwas so Wichtigem wie der Corona-Impfung hätte ich mir gewünscht, dass Blindheit und Behinderung mitgedacht und Zugänge geschaffen würden.

Haben Sie dann die Hotline genutzt?

Nein, ich habe genügend Freund*innen, die sehend sind und mir einen Termin buchen konnten. Aber prinzipiell ist es nicht richtig, dass blinde Menschen auf die Hilfsbereitschaft anderer Menschen hoffen müssen, wenn die Infrastruktur versagt. Das schränkt unsere Unabhängigkeit ein.

Wie sieht es mit Kulturangeboten aus? Sind Sie viel unterwegs?

Ich bin großer Musik-Fan und gehe auf viele Konzerte und Festivals. In Museen ist es schwieriger. Ein positives Beispiel ist das Museum für Moderne Kunst (MMK) in Frankfurt. Es zeigt gerade Marcel Duchamp und tatsächlich stellt es ein paar Werke als Tastmodelle aus. Das ist aus einer Kooperation mit dem Dialogmuseum hervorgegangen. So haben blinde und sehbehinderte Menschen neben den Audioguides noch eine weitere Möglichkeit, die Werke wahrzunehmen. Das könnte es gerne viel häufiger geben, gerade in Museen, die sowieso viele plastische Dinge ausstellen, ob das Statuen sind oder auch die Skelette. Natürlich will ich nicht die Originale anfassen, aber Modelle wären super.

Wie gefällt Ihnen eigentlich der neue Standort hier mitten in der Stadt?

Hier in der B-Ebene der Hauptwache sind wir wirklich mitten in der Stadt. Das ist toll, weil das Dialogmuseum ein fester Bestandteil der Frankfurter Kulturlandschaft ist und wir mit diesem Standort präsenter sind. Am alten Standort hatten wir keine Durchgangskundschaft. Jetzt kommen stündlich viele Menschen zufällig am Museum vorbei. Fast schon ironisch ist, dass die B-Ebene der Hauptwache keine Leitlinien hat. Dafür hören wir jetzt den Sound der U-Bahnen während unserer Touren.

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