Der Wildheidelbeeren-Fall

Landeslabor entlarvt mit eigens entwickelter Methode Betrügereien der Lebensmittelindustrie

Martin Kaufmann bereitet eine Probe zur Untersuchung vor.
Martin Kaufmann bereitet eine Probe zur Untersuchung vor.

Mit Kittel und Schutzbrille ausgerüstet, wie es die Arbeitsschutzbestimmungen im Labor verlangen, setzt Dr. Martin Kaufmann ein Kunststoffstäbchen in einen handelsüblichen Akkuschrauber ein und zerkleinert damit eine Heidelbeere. Er könnte sie auch mit der Hand zerquetschen. Aber wenn er das an langen Arbeitstagen immer wieder machen würde, könnten ihm abends die Finger davon wehtun und zittern. Er braucht jedoch eine ruhige Hand, wenn er mit einer speziellen Pipette exakt einen Mikroliter Flüssigkeit entnimmt und präzise in einer winzigen Vertiefung in einer Metallplatte platzieren muss. Darüber kommt noch eine organische Säure und dann geht es hinüber zum Flugzeiten-Massenspektrometer. In diesem Gerät wird die Probe mit einem Ultraviolett-Laser 60-mal pro Sekunde beschossen und dadurch verdampft. Moleküle werden in einer Vakuum-Röhre beschleunigt. Sie steigen in Millisekunden auf zu einem Detektor. Das Massenspektrometer misst die exakte Flugzeit von unten bis oben. Das erlaubt am Ende Rückschlüsse auf die enthaltenen Proteine und damit die Beschaffenheit der Probe.

Das Landeslabor Berlin-Brandenburg
  • Die Länder Berlin und Brandenburg unterzeichneten am 30. September 2008 einen Staatsvertrag zur Bildung eines gemeinsamen Landeslabors, welches seine Arbeit dann am 1. Januar 2009 aufnahm. Es war die bundesweit erste länderübergreifende staatliche Untersuchungseinrichtung.
  • Die 513 Beschäftigten sind im Durchschnitt 47 Jahre alt. Zum Personal gehören auch 15 Auszubildende.
  • Im Jahr 2021 analysierte die Tierseuchendiagnostik des Landeslabors 654 602 Proben, darunter zahlreiche Proben zur Erkennung der Afrikanischen Schweinepest.
  • Der Bereich Umwelt und Strahlenschutz untersuchte 30 615 Proben. Dazu kommen noch 5938 Proben aus der Landwirtschaft, etwa zur möglichen Schadstoffbelastung von Futter, Dünger, Böden und Saatgut.
  • Außerdem sind 25 522 Lebensmittelproben sowie 731 Arzneimittel und Medizinprodukte zur Begutachtung eingegangen. Mit dabei 507 Weinproben und 2562 Proben von Kosmetik und Bedarfsgegenständen. af

    Martin Kaufmann kann am Ende im Computer abrufen, ob diese Sorte Heidelbeeren identisch ist mit echten und deshalb teuren Wildheidelbeeren, oder ob es sich lediglich um billige Kulturheidelbeeren handelt. Einen Wert von 2,26 zeigt das Spektrometer an. Unter 2,0 hätte er vorhin keine echte Waldheidelbeere zerkleinert. Bei 2,26 lautet der klare Befund: Es liegt keine Produktfälschung vor.

    Dem Landeslabor Berlin-Brandenburg (LLBB) mit Hauptsitz in der Wissenschaftsstadt Berlin-Adlershof wurden Anfang 2021 tiefgekühlte Heidelbeeren zur Begutachung vorgelegt. Sie wurden als Wildheidelbeeren ausgezeichnet und verkauft, doch ein Kunde hegte Zweifel und beschwerte sich.

    Die Lebensmittelinformationsverordnung schreibt vor: »Informationen über Lebensmittel dürfen nicht irreführend sein.« So lautet Artikel 7, Absatz 1. Vanilleeis bekommt seinen Geschmack oft nur von einem künstlichen Aroma und nicht von echten Vanillestangen, die sehr kostspielig sind. Manchmal werben Hersteller von Lebensmitteln mit dem Hinweis »ohne künstliche Aromen, wir weisen aber welche nach«, berichtet Martin Kaufmann vom LLBB-Zentrum für Authenzität.

    Honigsirup mit Zucker strecken, hochwertiges Olivenöl mit ranzigem Öl panschen, Pferdefleisch statt Rind in der Lasagne – das sind Fälle von Lebensmittelbetrug, die in der Vergangenheit Schlagzeilen machten. Doch wie die Verbraucher vor falsch deklarierten Heidelbeeren schützen? 450 Arten gibt es weltweit, von denen nur eine einzige nicht essbar ist. Sie auseinanderzuhalten, war im verarbeiteten Zustand bislang unmöglich. Experte Kaufmann überlegte hin und her. Mit einem PCR-Test ließe sich etwas anfangen, doch die entsprechende Analytik war wegen der Coronakrise selbstredend ausverkauft, und Kaufmann wollte die zur Bekämpfung der Pandemie dringend gebrauchten Kapazitäten auch nicht wegen eines vergleichsweise geringen Problems im Verbraucherschutz belasten. Infrarotspektroskopie und Kernmagnetismus gehörten zu seinen Denkansätzen, doch auch dafür fehlten an der Rudower Chaussee 39 die Möglichkeiten. So griff Kaufmann schließlich auf das Massenspektrometer und ein Analyseverfahren zurück, das zuvor schon benutzt wurde, um beispielsweise Pilzarten voneinander zu unterscheiden.

    Andere Bundesländer haben sich inzwischen nach Kaufmanns Methode erkundigt. Referenzmaterial besorgt sich der Experte in botanischen Gärten, in Geschäften und bei Waldspaziergängen. Jegliche blauen Beeren interessieren ihn dafür, auch solche, die nicht zu den Heidelbeeren gehören. Die Werte von rund 500 bekannten Arten, die das Massenspektrometer ausspuckte, sind mittlerweile im Computer gespeichert, darunter auch Himbeeren, die an sich leicht von Heidelbeeren zu unterscheiden sind. Wild- und Kulturheidelbeeren auseinanderzuhalten, das ist wesentlich schwieriger. Die Kulturheidelbeeren sind in der Regel so gezüchtet, dass sie größer sind. Es gebe aber auch Sorten mit kleinen Früchten, weiß Kaufmann. Der erste erfolgreiche Test konnte übrigens den Zweifel des Kunden an der Echtheit der angeblichen Wildheidelbeeren bestätigen. Die Laboranalyse identifizierte die schmalblättrige Heidelbeere. Sie gehört zu den Kulturheidelbeeren. Ob der Hersteller eins auf den Deckel bekam, entzieht sich allerdings der Kenntnis des Labors. Es übermittelt seine Befunde den Lebensmittelüberwachungsämtern der Berliner Bezirke und Brandenburger Landkreise. Die sind dann dafür zuständig, Konsequenzen zu ziehen. Vorsätzlich falsche Angaben auf dem Etikett sind Betrug und damit strafbar. So viel steht fest.

    25 angebliche Wildheidelbeer-Produkte nahm das Landeslabor im Zeitraum viertes Quartal 2021 bis Ende August 2022 unter die Lupe. Nur in drei Fällen stimmten die Angaben auf dem Etikett. Das ist eine extrem hohe Fälschungsrate. Bei Lebensmitteln insgesamt wurden im vergangenen Jahr nur 16,4 Prozent der Proben beanstandet. Das sei ungefähr die seit Jahren übliche Quote, erläutert LLBB-Direktor Mike Neumann.

    Am Mittwochnachmittag übergibt er den jüngsten Jahresbericht seiner Institution an die zuständigen Staatssekretäre der Brandenburger Landesregierung und des Berliner Senats. Zwei von 116 Seiten des Berichts sind den Heidelbeeren gewidmet. Ansonsten geht es beispielsweise um die Haltbarkeit von verpacktem Hackfleisch. Bereits einen Tag vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums seien Auffälligkeiten entdeckt worden, erzählt Neumann. Er weiß nun auch Bescheid über Salmonellen an Melonen. »Ich gebe zu, ich habe Melonen früher nicht abgewaschen. Jetzt waschen wir sie ab.«

    »Ein gutes Landeslabor schützt nicht nur die Verbraucher, sondern auch die ehrlichen Anbieter«, findet der Berliner Staatssekretär Markus Kamrad. Seine Brandenburger Kollegin Anna Heyer-Stuffer greift weiter aus und sagt: »Das Landeslabor schützt uns – Bevölkerung und Umwelt – vor Schaden.« Die 513 Mitarbeiter, die sich auf den Hauptsitz in Berlin sowie zwei Außenstellen in Frankfurt (Oder) und eine in Oranienburg verteilen, prüfen alles Mögliche: Medikamente und Kosmetik zum Beispiel, auch die Qualität von Badegewässern und Trinkwasser sowie die Luftreinheit. Sie sind auch Tierseuchen wie der Afrikanischen Schweinepest (ASP) auf der Spur.

    »Wir waren die ersten, die die Afrikanische Schweinepest in Deutschland nachgewiesen haben«, erzählt Labordirektor Neumann. »Kann man sich drüber streiten, ob man darauf stolz sein kann.« ASP-Untersuchungen hatte das Labor bereits seit zehn Jahren durchgeführt, da die Tierseuche bereits in anderen Ländern grassierte, unter anderem rückte sie in Polen immer weiter nach Westen vor. Ein Übergreifen nach Brandenburg war insofern nur eine Frage der Zeit. Im September 2020 war es dann soweit. Im Landkreis Spree-Neiße verendete ein Wildschwein an der für die Tiere fast immer tödlichen Seuche. Seitdem befinden sich die Verantwortlichen und damit auch das Landeslabor im »Dauerkrisenmodus«, wie Staatssekretärin Heyer-Stuffer anmerkt. 2620 bestätigte Fälle bei Wildschweinen gibt es bislang und leider auch einige bei Hausschweinen – obwohl genau dies, ein Eindringen des Erregers in Nutztierbestände, durch Sperrzonen, Zäune und strenge Hygienemaßnahmen unbedingt verhindert werden sollte.

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