Stillstand nach dem Aus

Chiles neue Verfassung wurde abgelehnt, ein neuer Aufbruch ist noch nicht in Sicht

  • Malte Seiwerth, Valparaíso
  • Lesedauer: 8 Min.
Camila Donoso hoffte, dass sich Chile durch eine neue Verfassung entwickeln könnte. Jetzt, nach dem verlorenen Referendum, ist sie zwar niedergeschlagen, aber sie will sich weiterhin für einen Wandel im Land einsetzen.
Camila Donoso hoffte, dass sich Chile durch eine neue Verfassung entwickeln könnte. Jetzt, nach dem verlorenen Referendum, ist sie zwar niedergeschlagen, aber sie will sich weiterhin für einen Wandel im Land einsetzen.

Stolz und selbstsicher sitzt der Sieger hinter seinem Schreibtisch. Christian Macaya rutscht auf seinem Bürostuhl hin und her. Vor ihm ein Computer, hinter ihm ein Universitätstitel und ein Bücherschrank, der gefüllt ist mit Gesetzestexten. Im obersten Fach stehen die US-amerikanische Verfassung und deren Unabhängigkeitserklärung von England.

Das Büro gehört dem Anwalt Macaya, der vor zwei Jahren in den Regionalrat von Valparaíso gewählt wurde, als Parteiunabhängiger auf der Wahlliste der rechten Partei Renovación Nacional. In diesem Jahr leitete er die Kampagne gegen die neue Verfassung in der Provinz von Cabildo/Petorca. Das ist die Region, die aufgrund fehlenden Wassers und durch Avocado-Plantagen ungleich verteilten Zugängen dazu viel Aufmerksamkeit erlangte.

Wie fast überall im Land wurde auch hier der Verfassungsentwurf mit einer deutlichen Mehrheit abgelehnt. 60,3 Prozent der Wähler*innen stimmten am 4. September gegen die Verfassung, knapp zwei Prozent weniger als auf nationaler Ebene.

Für Macaya war dies keine Entscheidung zwischen rechts und links. »Es war schlichtweg ein schlechter Verfassungsentwurf«, sagt er und bezieht sich vor allem auf jene Artikel, die Chile in einen plurinationalen Staat verwandelt hätten, in dem alle Ethnien gleichberechtigt gewesen wären. In Chile gäbe es die verbreitete Annahme, sagt er, »unsere Probleme mit einer Verfassungsänderung lösen zu wollen«, was er für Unsinn hält. Niemand hätte was gegen eine Verankerung von sozialen Rechten gehabt, sagt Macaya, auch wenn das nicht viel verändert hätte, mutmaßt er.

Die chilenische Gesellschaft sei mit der Revolte vom 18. Oktober 2019 an einer »Schizophrenie« erkrankt, davon ist er überzeugt. Linksradikale hätten ihr eingeredet, man bräuchte eine neue Verfassung. Damit sei es jetzt aber vorbei. Die Vernunft habe über die Emotionen gesiegt, sagt er. Zudem sei die Abstimmung ein Eigentor für die Linken. Denn das Votum gegen die neue Verfassung habe die bisherige – im Jahr 1980 während der Militärdiktatur entstandene – demokratisch legitimiert. Macaya ist zufrieden.

Das ist die Interpretation eines Siegers, die in Chile derzeit so ähnlich oft zu hören ist. Die Kampagne von rechten Kräften gegen die Verfassung, hinter der auch große Medienunternehmen standen, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Verfassung gescheitert ist. Jetzt wirkt sie noch immer nach. Die Gegner der Verfassung haben Oberwasser.

Von dem Entwurf überzeugt war dagegen Camila Donoso. Unweit der Provinzhauptstadt Valparaíso und dem Büro von Macaya, im Dorf Valle Hermoso serviert sie einen Kaffee. Es ist noch morgens, das Restaurant ihrer Familie ist fast leer, die Schwiegermutter kümmert sich um die Zutaten fürs Mittagessen, während der Wassertank gerade gefüllt wird. Um 13 Uhr wird es abgestellt. Wasser ist ein knappes Gut und wird rationiert. Chile geht seit knapp zwei Jahrzehnten durch eine Trockenperiode. Selbst der Regen im Winter kann viele ausgetrocknete Flüsse nicht wieder zum Fließen bringen. Die Bevölkerung wächst, wodurch der Wasserbedarf steigt, außerdem werden die verbleibenden Wasserreserven ungleich verteilt; die Avocado-Plantagen werden bevorzugt.

Donoso war Beraterin von Carolina Vilches, die dem Verfassungskonvent angehörte. Beide Frauen sind Aktivistinnen der Umweltorganisation Modatima, die für den Schutz des Wasserzugangs, der Erde und der Umwelt steht. Mit insgesamt 154 Abgeordneten und einer Mehrheit, die sich aus linken, parteiunabhängigen und bewegungsnahen Kräften zusammensetzte, arbeitete der Konvent eine der progressivsten Verfassungen der Welt aus: Sie war feministisch, demokratisch, stand für Umweltschutz und den Schutz der indigenen Bevölkerung ein. Bei der Abstimmung erhielt sie eine deutliche Ablehnung.

Die Beraterin Donoso wirkt erschöpft. Sie war seit 2019 durchweg auf der Straße und erreichte zusammen mit ihren Mitstreiter*innen scheinbar Unmögliches: Ihre Kandidatin Vilches konnte sich bei der Wahl zum Konvent im Mai 2021 trotz fehlender finanzieller Mittel gegen die Vertreter*innen der wirtschaftlichen Eliten durchsetzen.

Die Abstimmung über die Verfassung liegt jetzt bereits einige Wochen zurück, aber Donoso ist noch immer niedergeschlagen. »Die haben alles geplant, damit wir scheitern«, sagt sie und beginnt von den widrigen Umständen zu erzählen, denen sie ausgesetzt waren. Vilches hatte gerade einmal umgerechnet 1800 Euro monatlich zur Verfügung, um ihr Team zu bezahlen. Von dem Geld wurden fünf Berater*innen entlohnt, Handzettel gedruckt und Informationsveranstaltungen auf lokaler Ebene organisiert. »Wir sind teilweise über die Nacht wach geblieben, um Flyer selbst zu drucken, da wir kein Geld hatten, eine Druckerei damit zu beauftragen.«

Die Medien begleiteten die Arbeit des Verfassungskonvents vor allem mit Boulevardgeschichten. Es ging oft um Klatsch über die Abgeordneten, um gegenseitige Beleidigungen und Kritik über deren Kleidungsstile. Inhaltliche Diskussionen spielten kaum eine Rolle. Daher verwundert es auch nicht, dass in Chile viele nicht genau wussten, wie es um die Arbeit an der Verfassung überhaupt bestellt war.

Das Team der Abgeordneten Vilches arbeitete an einer neuen Wassergesetzgebung. Das nasse Gut sollte verstaatlicht und auf lokaler Ebene durch sogenannte »Talräte« verwaltet werden. Jeder Flusslauf hätte so eine lokale, autonome und gemeinschaftliche Verwaltung erhalten. Das wäre auch die Lösung für ihr Dorf gewesen, davon ist Donoso überzeugt.

Doch die Öffentlichkeit diskutierte über andere Dinge, selbst bei Donoso im Dorf. Bei Besuchen zu Hause äußerten ihre Eltern ihre Angst vor einem zu starken Staat, der alles kontrollieren und Häuser enteignen würde. Eine Nachbarin war voller Ressentiments. Mit den Menschen aus Venezuela seien viele Kriminelle gekommen, erzählte sie. Man sprach im Dorf auch von einer Rückkehr zur Unidad Popular, der sozialistischen Regierung von Salvador Allende von 1970 bis1973, und vom damals rationiertem Essen. Die Rationierung war seinerzeit notwendig, weil Unternehmer*innen streikten, das wurde aber ausgeblendet.

Donoso und ihre Mitstreiter*innen wurden oft belächelt. Sie erinnert sich, wie man ihnen sagte, »es sei gut, was wir machen, aber der Entwurf überzeuge sie trotzdem nicht«. Schon Monate vor dem Referendum vom 4. September ging es längst nicht mehr um den Inhalt. Donoso meint: »Wir mussten eine grundlegende Informationskampagne führen und gleichzeitig für unsere inhaltlichen Ausarbeitungen werben.«

Gespräche auf der Straße bestätigen das Bild. Unweit von Donosos Haus stehen ein paar Verkäuferinnen vor Bekleidungsgeschäften. Sie warten auf Kundschaft und möchten lieber anonym bleiben. Ihre Meinung tun sie trotzdem kund: Eine meint, der Inhalt des Verfassungsentwurfs sei am Ziel vorbeigeschossen. Die eigentlichen Probleme seien nicht angegangen worden. Auf die Frage, welche das seien, antwortet sie unmissverständlich: »die Kriminalität, die Respektlosigkeit gegenüber den Regierungsoberhäuptern. Selbst in Valle Hermoso stehlen sie fast täglich«. Hätte der Konvent die Todesstrafe eingeführt oder die Strafen deutlich erhöht, dann hätte sie dafür gestimmt. Aber so nicht. »Und die allseits herrschende Wasserknappheit?« Auch hierfür hat sie eine klare Meinung: »Die Plantagen geben Arbeitsplätze. Was sollen wir sonst tun?«

Es kommt Kundschaft, und zwei Frauen verschwinden. Eine bleibt zurück. Sie hat bisher nur genickt und meint nun: »Ich habe für die neue Verfassung gestimmt. Aber ich glaube, die Menschen wurden falsch informiert, deswegen ist die Ablehnung immer größer geworden.« Aber auch sie ist kritisch. Der Konvent sei »zu links« gewesen und hätte zu wenig auf die Interessen von Konservativen geachtet.

Der Anwalt Macaya lächelt, wenn er auf die Debatten über die Verfassung zurückblickt. Er beginnt zu erzählen, wie ein General nach einer gewonnenen Schlacht: »In Chile sind leider 5 Prozent der Bevölkerung Analphabeten, mehr als sechzig Prozent verstehen nicht, was sie lesen. Und wenn es um einen technischen Text geht wie bei diesem, kommen wir auf sehr wenige in der Bevölkerung, die verstehen, was sie da vor Augen haben.« Man könne keine Kampagne auf Basis des gesamten Inhalts der Verfassung führen, sondern müsse die Diskussion auf wenige Punkte reduzieren, erklärt er seinen populistischen Ansatz. Diese seien von Provinz zu Provinz unterschiedlich.

In Cabildo/Petorca seien es die Rechte der Minderheiten und die »Werte der Bauern«, zählt Macaya auf. Denen gehe es um Traditionen und um Symbole des Vaterlandes, die geachtet werden müssten. Zwar habe die ausgearbeitete Verfassung nicht gegen diese Werte gewirkt, meint er. Aber die Abgeordneten im Konvent »haben sich so verhalten, dass man ihnen den fehlenden Respekt ansah«, ist er überzeugt. Wenn die Hymne nicht mitgesungen wurde oder ein paar Sätze für den Tierschutz und gegen Toreo fielen – ein Sport, bei dem Reiter einen Stier brutal jagen – dann reichte das oft schon aus, um der Kampagne gegen die Verfassung neuen Stoff zu geben.

Was die Ablehnung zum Verfassungsentwurf am 4. September genau bedeutet, darüber wird bis heute gestritten. Seit Wochen versucht die Regierung in Santiago zusammen mit Abgeordneten aus der politischen Mitte einen neuen verfassungsgebenden Prozess anzustoßen, bislang jedoch nur mit mäßigem Erfolg. Grund dafür sind die rechten Parteien, die manchmal zwar an den Verhandlungen teilnehmen, sie dann aber wieder abrupt abbrechen. Es scheint, als lehnten sie keinen weiteren Anlauf für eine neue Verfassung ab.

Kurz nach der Abstimmung veröffentlichte das Institut Feedback eine Umfrage, derzufolge eine große Mehrheit der Bevölkerung weiterhin für eine neue Verfassung ist. Diese sollte soziale Grundsätze wie eine kostenlose universitäre Bildung, Wasser als öffentliches Gut, ein öffentliches Rentensystem oder gar das Recht auf Abtreibung enthalten. Einzig nicht einverstanden ist die Mehrheit der Befragten mit der Plurinationalität und der Möglichkeit einer separaten indigenen Rechtsprechung.

Einflussreiche rechte Kräfte wie Macaya zweifeln derweil komplett die Notwendigkeit eines verfassungsgebenden Prozesses an. Zwar hatten auch rechte Parteien eine neue »gute« Verfassung versprochen, doch er meint, man solle nicht Gefangener eines Versprechens sein. Es gebe wichtigere Dinge, die chilenische Gesellschaft dürfe sich nicht weiter spalten. »Man muss auch mal glücklich sein«, resümiert er, »und die Politik beiseitelassen«.

Die Aktivistin Donoso setzt derweil auf politische Basisarbeit. Das Restaurant der Familie will sie für Workshops und weitere Aktivitäten nutzen. Die Arbeit für die neue Verfassung sei trotz allem nicht zwecklos gewesen: »Sie wird ein Beispiel für die Zukunft sein«, sagt sie hoffnungsvoll.

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