Nichtmenschliches ist mir fremd

Latours Denken und die neuen Materialismen kommen radikal daher, sind aber ein alter Hut idealistischen Denkens

In der Nacht auf den 10. Oktober ist der weltberühmte Soziologe und Philosoph Bruno Latour gestorben. In zahlreichen Nachrufen wurde er als »Paradigmenwechsler« oder »Neudenker der Moderne« gewürdigt. Zu Recht, denn etwa seine Akteur-Netzwerk-Theorie wollte das moderne Subjektverständnis – wer also handeln kann, weil er über Selbstbewusstsein verfügt – um die unbelebte Umwelt und das Nichtmenschliche erweitern. Aber es hat auch etwas Ironisches, dass Latour im klassisch modernen Wissenschaftsverständnis gewürdigt wird, als Revolutionär im Sinne der Kuhnschen Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Die wahren Kenner*innen Latours wissen natürlich, dass die Verheißung seines Werks gerade darin besteht, über die Sackgassen der Modernität hinauskommen zu wollen.

Der Wunsch nach solch einem Genie wird umso größer, je weniger Spielraum es überhaupt noch für utopisches oder auch nur alternatives Denken gibt. Das führt zu einem, auch unter Linken, weit verbreiteten Gedanken: Wenn die Moderne und ihr Kapitalismus unweigerlich in die Katastrophe von Klimakollaps und Krieg führen, braucht es dann nicht ein grundlegend anderes Bewusstsein? Solche Überlegungen umgibt der Nimbus des Radikalen. Eine Radikalität allerdings, der es nicht darum geht, Ursachen zu ergründen (das wäre die moderne Variante), sondern darum, besonders konsequent zu sein. Wenn die Menschen, die ihre eigene Geschichte machen, nur Mist verzapfen, dann braucht es eben eine Perspektive, die nicht menschlich ist.

Um eine solche bemüht sich die diffuse Theoriebewegung des New Materialism, die auch, aber nicht nur, Anleihen von Latour nimmt. Der »Neue Materialismus« sorgt seit einigen Jahren bereits für begriffliche Verwirrung, denn mit einem »alten« Materialismus hat er wenig gemein. Anstatt die Gesellschaft als die gegenseitigen Verhältnisse der Menschen zu deuten (alt), soll der Mensch aus dem Zentrum genommen werden, um so zu einem Verständnis wirkmächtiger Materie zu gelangen (neu). Vor dem Hintergrund der ökologischen Verwerfungen, die der Mensch ohne Zweifel im sogenannten Anthropozän angerichtet hat, ließe sich so vielleicht die geschundene Natur zu ihrem Recht kommen lassen.

Die zu klärende Frage bei solchen Spekulationen bleibt: Was unterscheidet die Überwindung der Moderne von einem bloßen Rückfall hinter deren Errungenschaften? Demut gegenüber der Natur ist ja gar keine so radikale Idee. Zumindest nicht, wenn das moderne Ursprungsproblem darin besteht, dass menschliche Freiheit auf Naturbeherrschung beruht. Naturverehrung ist eigentlich nur deren Umkehrung. Damit bleibt man genau in der Klemme stecken, die gemeinhin Dialektik der Aufklärung genannt wird: Freiheit, die auf Herrschaft beruht, wird selbst wieder zu einer Form der Herrschaft. Der Ausweg, der hier als radikale Konsequenz aufscheint, wäre dann, auf Freiheit zu verzichten.

So groß das Bedürfnis und die Not auch ist, sich aus dieser Zwickmühle der Moderne mit einem neuen Bewusstsein zu befreien, es bleibt ein Wunschdenken. Daran ist nichts auszusetzen, solange man sich nicht der Illusion hingibt, damit schon etwas am Verhängnis der Moderne ändern zu können. Denn dafür hilft nur die klassisch moderne und materialistische Einsicht, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Alex Struwe

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