Stumpfsinn als Befreiung

Robert Walsers subtiler und hellsichtiger Roman »Jakob von Gunten« ist neu aufgelegt worden

  • Ingo Ebener
  • Lesedauer: 4 Min.

Unter den Lieblingsautoren verdient Robert Walser schon deswegen einen besonderen Platz, weil er zwar immer mit Bewunderung, aber mehr noch mit Ratlosigkeit und Schweigen bedacht wurde. Kafka, Hesse, Tucholsky oder Musil lasen ihn begeistert. Und doch bedurfte und bedarf es größerer Bemühungen, um ihn der dunklen Schneeschicht zu entreißen, die sein Werk durchzieht und beständig zu überdecken droht. Es ist klug und begrüßenswert, dass der Suhrkamp-Verlag mit der »Berner Ausgabe« die Werke Robert Walsers seit wenigen Jahren so genau und kenntnisreich wie möglich kommentiert zugänglich macht, ohne vom Primärtext abzulenken.

Robert Walser legte in den Jahren 1907 bis 1909 seine ersten drei Romane vor, die gerne als Berlin- oder Großstadtromane bezeichnet werden. Erkennbar hat Walser in die Texte autobiografische Erfahrungen einfließen lassen, die ihn zu verschiedenen Berufen und im Anschluss wieder zum Dichterischen brachten. Neben diesem Zwist aus Bürgerlichem und Künstlerischem wird deutlich, dass die Tür zum politischen Schicksal des 20. Jahrhunderts mit dessen Potenzialen und Schrecknissen gerade erst aufgestoßen worden war.

»Jakob von Gunten« ist als letzter dieser Reihe ein kurzer Tagebuchroman, dem diese Mischung aus Unsicherheit und ausschweifender Erwartungshaltung beigegeben ist. Traum und Einbildungskraft sind seine bestimmenden Größen. Walser unternimmt den Versuch, etwas Vorübergehendes, Unsichtbares und zum Verschwinden Verdammtes zu artikulieren – diese Idee verpflanzt er zusammen mit seinem Protagonisten Jakob in eine Zöglingsanstalt, in der es »nur eine einzige Stunde« gibt, »und die wiederholt sich immer: ›Wie hat sich der Knabe zu benehmen?‹ Um diese Frage herum dreht sich im Grunde genommen der ganze Unterricht.«

Bereits der erste Satz fasst die Zustände mit Ernüchterung zusammen: »Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, d. h., wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein.« Es wäre jedoch verfehlt, in Jakob einen »Schüler Gerber« zu sehen, der von der Institution in die Mangel genommen und mit seinen Bedürfnissen als werdender Mensch und Künstler zerquetscht oder im Stich gelassen würde. Walsers Ich-Erzähler empfindet den dargebotenen Stumpfsinn durchaus als Befreiung und als Ausweg.

Er hat, wie man im Laufe des Geschriebenen erfährt, die Zöglingsanstalt selbst als Fluchtort vor der vorbestimmten Gutbürgerlichkeit gewählt. Es hat etwas Tragikomisches, dass Jakob in der Anstalt, die »kugelrunde Nullen« hervorbringt, einen Schutz- und Initiationsort findet und die äußere Welt als ein Anderswo beschreibt, das die Person auflöst.

Jakob hat verstanden, die Schule gerade deswegen als einen Möglichkeitsraum wahrzunehmen, weil ihm kaum mehr abverlangt wird als die beständige Konfrontation mit dem Kleinen, Untergeordneten und Nichtigen. Er malt sich die Null daher als wohlgenährten und zufriedenen Menschen ohne Ansprüche aus, als starken Kontrast zu den ihn in Albträumen heimsuchenden Sklaventreibern, Kapitalisten und Großräten.

Jakob zankt gerne und liebt es, mit seinem Mitschüler Kraus Schabernack zu treiben, der ihn mit Ordnungssinn und Devotheit provoziert sowie gleichzeitig komplementiert: »Und wir beiden passen so gut zueinander. Dem Empörten muß doch immer der Sünder gegenüberstehen, sonst fehlte ja etwas.«

Jakobs Blick auf die Anstalt und seine Mitschüler aber ist dichterisch-verspielt und voller Sympathie, denn er »finde an allem und in allem irgend etwas Geringfügig-Hübsches«. Mit seinen Kameraden ist Jakob nicht nur in ganz stupider »Zimmermädchenarbeit« oder im Mimen von Diener und Herr vereint – was ihm »wie ein Traum, wie ein sinnloses und zugleich sehr sinnreiches Märchen« vorkommt –, er unterscheidet sich vor allem durch seine Herkunft grundlegend von diesen.

Die Furcht vor erdrückender Herkunft und väterlicher Vortrefflichkeit manifestiert sich in seinen Albträumen, aber auch in seinem »Lebenslauf«, den er für den ihm zugewandten Vorsteher des Instituts, Herr Benjamenta, abzufassen hat. In diesem Bericht schreibt Jakob, dass er entschlossen sei, vom alten Geschlecht der von Gunten und deren »hochmütiger Tradition« abzufallen, dass es ihm aber auch unmöglich sei, »die angeborene Natur zu verleugnen«.

Die Einbildungen Jakobs sind harmlose und meist charmante Träumereien, mal zieht es sie ins Rätselhafte, mal streifen sie das Ernste, und dann verschlägt es sie vom Albtraumhaften mitunter ins Hellsichtige.

Wenn Jakob sich der Annahme hingibt, er wäre »ein ausgezeichneter Soldat«, dem durch Schnee marschierend überdeutliche Erinnerungen »am Herzen fressen wie Raubtiere an der willkommenen Beute«, dann scheinen die Weltkriege als noch schrecklichere Bestien auf und verleihen dem Text eine beängstigende Dimension, wozu sich auch die sadistischen Spielereien und Gewalthandlungen von Musils »Zögling Törleß« nur allzu gut hinzufügen ließen. Dennoch ist es für Jakob wie für den Roman bezeichnend, dass er im Krieg das Entmenschlichende sieht und stattdessen das Menschliche sucht.

Die Wiederlektüre dieses vielschichtigen und sprachlich wunderbaren Werkes lohnt – und sei es nur, um sich daran erinnern zu lassen, dass es auch im Geringfügigen etwas Hübsches zu entdecken gilt.

Robert Walser: Jakob von Gunten, Berner
Ausgabe, Band 7. Suhrkamp, 163 S., 28 €.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal