Neuer Wahlgang mit alten Kandidaten

Landeswahlleiter Bröchler rechnet mit Wiederholung der Berlin- und der Bundestagswahl zu unterschiedlichen Terminen

Immerhin das: Wenn voraussichtlich am 12. Februar 2023 die Berliner Chaoswahl vom 26. September 2021 wiederholt wird, dann müssen die Wähler über den damals erfolgreichen Volksentscheid »Deutsche Wohnen & Co enteignen« nicht noch einmal abstimmen. Stattdessen könnte an diesem Termin der Volksentscheid »Berlin 2030 klimaneutral« stattfinden, zumindest theoretisch. Derzeit läuft hierzu noch das dazugehörige Volksbegehren.

Ob der Berliner Verfassungsgerichtshof am 16. November tatsächlich verfügen wird, dass die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den zwölf Bezirksverordnetenversammlungen der Hauptstadt wegen zahlreicher Pannen komplett wiederholt werden müssen, kann der neue Landeswahlleiter Stephan Bröchler nur vorausahnen. Die Andeutungen von Gerichtspräsidentin Ludgera Selting lassen allerdings nichts anderes erwarten.

Bröchler bereitet sich dann auch auf ein solches Szenario vor. Seit Anfang des Monats auf seinem Posten, war Bröchlers erste Amtshandlung, für ausreichend Papier für die Stimmzettel zu sorgen. »Die Ausschreibung läuft«, sagte er am Freitag. Vorsorglich sollen 40 Prozent mehr Stimmzettel gedruckt werden, als es Wahlberechtigte gibt. Am Wahltag im vergangenen Jahr lag nur ein Überschuss von 16 Prozent bereit. Auch deswegen gingen in etlichen Wahllokalen die Stimmzettel aus, und bei den Versuchen, welche nachzuliefern, kamen die Fahrzeuge nicht durch, weil es wegen des zeitgleich stattfindenden Berlin-Marathons zahlreiche Straßensperrungen gab.

Zumindest wird es nun im Februar absehbar kein vergleichbares sportliches Großereignis geben. Das macht die Durchführung der Wahl etwas einfacher. Bröchler erwartet außerdem, dass die in Berlin zusätzlich infrage stehende (Teil-)Wiederholung der Bundestagswahl nicht am selben Tag über die Bühne gehen wird wie die Abgeordnetenhauswahl. Denn derzeit sieht es danach aus, dass der Wahlausschuss des Bundestags die Abstimmung nur in 300 der insgesamt 2256 Berliner Wahllokale wiederholen lassen will. Fällt eine solche Entscheidung, dürften Klagen gegen sie programmiert sein. Dann hätte das Bundesverfassungsgericht über sehr grundsätzliche Fragen zu urteilen, so Bröchler, zum Beispiel darüber, ob eine Wartezeit von 30 oder 45 Minuten vor dem Wahllokal zumutbar sei. Unterdessen laufe die Zeit davon.

Zu lösende Schwierigkeiten gibt es auch unabhängig davon reichlich. So bittet Bröchler den Landesverfassungsgerichtshof inständig, nicht zu urteilen, es müsste jedem Wahlberechtigten unbedingt ermöglicht werden, ins Wahllokal zu gehen. Etwa 40 Prozent stimmten im September 2021 per Briefwahl ab – und mindestens so viele werden es auch im Wintermonat Februar mit vielleicht wieder mehr Corona-Infektionen sein, schätzt der Landeswahlleiter. Er will eine Abstimmung wieder mit 2256 Wahllokalen, aber diesmal drei Wahlkabinen pro Lokal organisieren. Im September 2021 waren es statistisch nur 2,3 Kabinen und es bildeten sich auch deswegen lange Schlangen. Müsste der Landeswahlleiter nun jedoch für den – praktisch ausgeschlossenen – Fall vorbereitet sein, dass niemand die Briefwahl nutzt und alle persönlich vorbeikommen, bräuchte er bis zu zehn Kabinen pro Wahllokal, wofür vielerorts einfach der Platz fehlt. Stattdessen mehr Wahllokale aufzumachen, würde wiederum deutlich mehr als die zuletzt rund 38 000 Wahlhelfer erfordern.

Allein diese Zahl wieder zusammenzubekommen, dürfte knifflig werden. So mancher könnte nach dem Drüber und Drunter beim letzten Wahlgang wenig Lust verspüren, sich das noch einmal anzutun. Bröchler will den Helfern von einst nun einen Brief schreiben, ihnen für ihren Einsatz bis spät in die Nacht danken – und sie um ihre erneute Mithilfe bitten. Außerdem will er im Verein mit Sportverbänden und Gewerkschaften einen Aufruf starten, sich als Wahlhelfer zur Verfügung zu stellen.

Unabdingbar sei es, das sogenannte Erfrischungsgeld zu erhöhen. Je nach Position im Wahlvorstand werden bislang zwischen 35 und 60 Euro als Aufwandsentschädigung gezahlt. Mindestens doppelt so viel müsste es sein, schlägt der Landeswahlleiter vor. Der Verwaltung von Innensenatorin Iris Spranger (SPD) übermittelte Bröchler einen Vorschlag, er will die darin genannten Zahlen aber noch nicht öffentlich nennen.

Da es sich um eine Wiederholungs- und nicht um eine Neuwahl handelt, werden die Parteien ihre Kandidaten nicht noch einmal nominieren müssen. Den Wählern werden stattdessen die Stimmzettel vom vergangenen Jahr erneut zum Ankreuzen vorgelegt. Kandidaten, die mittlerweile verstorben oder verzogen sind, werden gestrichen beziehungsweise geschwärzt. Wer selbst nicht mehr auf der Liste von damals antreten wolle, weil er beispielsweise aus seiner Partei aus- oder in eine andere Partei übergetreten sei, wäre nach Überzeugung des Wahlleiters ebenfalls zu streichen. Handelt es sich um einen Direktkandidaten in einem Wahlkreis, so habe die Partei in diesem Wahlkreis dann diesmal eben keinen Direktkandidaten.

Was neu erstellt wird, weil es gesetzlich so vorgeschrieben ist, sind die Wählerverzeichnisse. Wer mittlerweile weggezogen ist, bekommt keine Wahlbenachrichtigung mehr und darf auch nicht abstimmen, wer inzwischen zugezogen ist, schon. Analog gilt das für Jugendliche, die nun 18 Jahre alt geworden sind und Mitglieder des Abgeordnetenhauses wählen dürfen, was sie 2021 noch nicht durften. Wer bis zum 12. Februar 16 Jahre alt wird, darf in seinem Bezirk die Bezirksverordneten wählen.

Landeswahlleiter ist Bröchler ehrenamtlich. Er hat sich um diese Funktion nicht beworben. Die Anfrage erreichte ihn während einer Urlaubsreise. »Mal die Chance zu haben, was man an Handlungsempfehlungen gibt, auch umzusetzen – wann hat man das schon?«, so Bröchler auf die Frage, warum er das Angebot angenommen habe. Bröchler ist seit Oktober 2020 Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht. Er gehörte einer Expertenkommission an, die sich mit den Fehlern bei der Organisation und Durchführung der Pannenwahl befasste und Verbesserungsvorschläge machte. Der von Bröchler mitverfasste Bericht wurde am 6. Juli vorgelegt. Die Kommission sah kein »systemisches Versagen« und keine »defekte Demokratie«. Auch gebe es keinen einzigen Hinweis auf eine Manipulation, betonte Bröchler am Freitag. Die Organisationsdefizite seien schlimm genug.

»Nach dem Wahldebakel 2021 brauchen wir ein neues Rollenverständnis des Landeswahlleiters«, sagte Bröchler. Zum neuen Stil gehöre für ihn, die Journalisten am Freitag nicht in der Senatsinnenverwaltung, sondern »ganz bewusst« auf dem neutralen Boden seiner Hochschule für Wirtschaft und Recht zu informieren, um seine Unabhängigkeit auch damit zu unterstreichen. Der Landeswahlleiter, heißt es, sei ein »König ohne Land«, der die Gesamtverantwortung trage, jedoch keine Instrumente habe, bei den Bezirkswahlämtern etwas durchzusetzen. Genau das möchte Bröchler ändern, auch wenn die Zeit bis Mitte Februar dafür nicht ausreicht. Derweil habe man in der neuen Arbeitsgemeinschaft »Gute Wahlen in Berlin«, in der die Bezirke vertreten sind, »sehr, sehr schnell zu einer vertrauensvollen Arbeit gefunden«, sagte Bröchler. »Parteipolitische Spielchen« und ein »Verantwortungs-Pingpong« könne man sich auf dieser Ebene auch überhaupt nicht leisten. Längerfristige Veränderungen sollen nach dem 12. Februar, jedoch noch in der laufenden Legislaturperiode abgeschlossen werden. Normalerweise wird das Berliner Abgeordnetenhaus für fünf Jahre gewählt. So wäre es auch bei einer Neuwahl. Da es aber eine Wiederholungswahl ist, wäre der nächste Urnengang schon dreieinhalb Jahre später – fünf Jahre gerechnet vom September 2021.

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