Ohne Girlanden und Fußnoten

»Äquidistanz«: Durs Grünbeins Antifaschismus ist humanistisch und hellwach

  • Mario Pschera
  • Lesedauer: 4 Min.
Flaniert durch Berlin und erinnert sich: Durs Grünbein.
Flaniert durch Berlin und erinnert sich: Durs Grünbein.

Das erste Gedicht heißt »Nicht der Specht«. Nein, es war nicht der Vogel, der allein »einen ganzen Wald verhexen konnte / mit seinem kleinen Maschinengewehr«. Und es war auch »nicht die Stille in den Wartezimmern / bis die Schwester einen beim Namen rief«. Stattdessen: Narbe, Krater unterm Jochbein, Muttermal, die werden wichtig. Nicht als Verheißung einer Leibesbespiegelung, sondern als Ankündigung eines Sichinsverhältnissetzen. Zu den Lebenden und Toten, rumorender Geschichte, beharrlicher Natur, labyrinthisch-morbider Architektur.

Das ist schon mal ein guter Ansatz im Land der Mehrfachvergesslichkeiten, wo noch jeder Holzweg, jede tödliche Siegerstraße, jedes Paktieren mit dem Grau mit den Zeitläuften, einem Hätten-Wir-das-eher-gewusst oder gutem Glauben entschuldigt, schwammgedrübert und ad acta gelegt wird. Im Zweifel sind immer andere schuld. Der eloquente Österreicher, der verschmitzte Georgier mit Schnauz und Tabakpfeife, der rheinische Spitzkopf oder der sächsische Spitzbart. Oder der Mann aus Übersee.

Die Mehrfachvergesslichkeit hält die geflickte Fahne hoch und beschwört Traditionen, ob erfunden oder nicht, trompetet ihre Wahrheiten heraus wie eine Janitscharenkapelle vor dem Sturm. Rinks und lechts verwechsern sich, es wird gehobelt, und die Späne fallen reichlich. Aber Durs Grünbein verlangt nach »Äquidistanz«. So heißt der diesjährig erschienene Gedichtband des gebürtigen Dresdners, der wahlweise in Berlin und Italien lebt und vergangene Woche 60 wurde. Und Äquidistanz scheint die grundanständige Position eines Dichters zu sein, der Loblied, Schmähung und billigen Beifall verachtet, politische Haltung aus Deduktion und Analyse gewinnt.

Neun unbenannte Kapitel und das Dichtercredo »Äquidistanz« erwarten den Leser in knappem vers libre, gelegentlich doch gebundenen Versen. Ohne Girlanden, ohne Fußnoten. Man darf, man muss das Fleisch um das Gerüst selbst beisteuern, aus eigenen Lektüren, eigenem Leben und Hören, Sehen und Imaginieren von Landschaften. Man darf, man sollte dazu Grünbeins 573-Seiten-Essayband »Aus der Traum (Kartei)« von 2019 lesen, den Stoff, aus dem ostdeutsche Biografien sind, die sich nicht trotzig in einer ostdeutschen Identität vermauern. Die mit den quälenden Widersprüchen und Schuld ringen, die Fühmann, Bobrowski, Müller und die Wolf quälten, die nicht mit einer formelhaften deutsch-sowjetischen Freundschaft zu bannen waren. Die Polen sahen, Litauen, die Ukraine et al., die Verheerungen durch Faschismus, Stalinismus und Nationalismus. Das böse Spiel wiederholt sich im zerfallenden Jugoslawien, als low warfare im Einzugsbereich der Russkij Mir, Faszination des gnadenlosen Futurismus, Technik über alles, Appeasement im pragmatischen Westen. Kein Stoff für den Stammtisch, wohl aber für lange Küchentischgespräche.

Die Tour beginnt in Berlin, in unfreundlichster Jahreszeit, am »Spreekanal«: »Historische Wasser, aus vielerlei Zeiten legiert, / mit Toten gefüttert, Revolutionen, von Industrie satt. / Gleichgültig fließen sie an Lagerhallen, Fabrikruinen, / neuen Reihenhäusern vorbei von Schloss zu Schloss.« Yvan Golls Nachtgestalten meint man durch die Stadtlandschaften gespenstern zu sehen, Johann Ohneland reitet unter den S-Bahnbögen. Husch und vorbei, wer schaut schon drauf in der geschichtsverlorenen Stadt? »Januar wieder. Der Kanal / windet sich durch die Nacht, / tiefschwarz und tiefblau, / eine frische Reptilienhaut. // Rosa, dein Rot ist verblasst. / Sie hatten, sie hatten die Wahl / und haben den Brand entfacht / und riefen die Asche, das Grau. // Und rissen das Land entzwei / und wohnten sich ein im Verlust …« Und dann weiter zum Reichstagsufer, Straße des 17. Juni, Schlachtensee, Dreilinden und Teufelsberg. Der Beobachter läuft durch diese Stadt, durch lärmende Gleichgültigkeit; Brandspuren und Brachen, auf denen Unkraut und Clubs gedeihen, die Staffage einstiger Helden auf Flohmärkten verscherbelt, ein paar Stolpersteine, es könnte etwas gewesen sein. Jacob van Hoddis, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, hier könnten sie gewesen sein. »Bauschutt, Betontrümmer, Flocken / Asbeststaub, Gedächtnisschwund. / Staub, und der Mund ist trocken, / das Auge ein wehrloses Rund.« Berlin, die Stadt des permanenten Verlustes.

Hinterlistig das zweite Kapitel: Postkartentexte der Dreißiger, Heil Hitler! das Wetter ist schön, Olympia, die Moskauer Sperlingsberge. »Es war ein unauffälliger Tag, / als ein paar untersetzte Männer, inferiore Typen, Tyrannen, / unter sich ganze Völker austauschten, / als die Blindenführer des Jahrhunderts beschlossen, / ihre Bevölkerungen als Geiseln zu nehmen, / mit den Grenzen zu spielen, den Landschaften. / Stunde der Kartographen in ihren Büros, / Stunde der Aktenkonzentration (NKWD, Gestapo), / Erfassung der Menschen im eigenen Reich / wie in allen besetzten Gebieten / mit Kenn-Nummern, Photos, Fingerabdrücken / zur Weiterverwendung (Arbeit oder Tod) …«

Und dann der Übersprung: Das italienische Meer. Pax Romana, Wellen, Fische, Krebse, Circus Marxismus. Anarchistische Utopien, Horaz und Papageien in Rom. Tyrannen, Konsuln, Gottkaiser, Soldatenkaiser, Verdämmern ins Mittelalter. Es gibt Abgeklärtheit, Demut, Widerständigkeit, das Beharren auf dem Nachdenken, Wissenwollen – das ist unzeitgemäß und Gebot der Stunde. Grünbeins Antifaschismus ist humanistisch und hellwach, unplakativ. Der Mann gehört ins Gespräch, unbedingt, ein Antidot gegen die Simpels, die Prechts, gegen Sloderdijk und Konsorten.

Durs Grünbein: Äquistanz. Gedichte. Suhrkamp, 183 S., geb., 24 €.

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