»Die Praktiken sind revolutionär«

Der Protestforscher Tareq Sydiq spricht über die anhaltenden Proteste im Iran

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 5 Min.

Sie haben zu den politischen Entwicklungen im Iran von 2017 bis 2021 geforscht, insbesondere zu den Protesten. Was ist bei der derzeitigen Protestwelle anders im Vergleich zu denen von 2017 oder 2019?

Für mich stehen zunächst viele Kontinuitäten im Vordergrund. Ich sehe ganz viele Parallelen, deswegen tue ich mich auch etwas schwer damit, den neuen Charakter überzubetonen. Ich sehe vieles, was 2017 neu war und sich jetzt wiederholt, speziell die radikale Ablehnung des Systems. Die ist seitdem ein Standardrepertoire von Protesten geworden, vor 2017 war das ein Randphänomen. Die starke Mobilisierung der Jugend ist auch ein Motiv, was sich wiederholt. Und Kopftücher sind auch 2017 schon abgenommen worden, davor war das eher ein Randphänomen.

Interview

Tareq Sydiq, geboren 1992, promovierte in Marburg zu autoritärer Partizipation im Iran. Zuvor studierte er in München, Kansas und London. Der Politikwissenschaftler forscht zu iranischen sozialen Bewegungen, mit Forschungaufenthalten in Japan und Iran. Er beschäftigt sich mit Protestbewegungen in Asien, insbesondere unter Repression, Krieg oder Pandemiebedingungen. Kürzlich erschien sein Buch »Autoritäre Interessenaushandlung. Wie Iraner*innen Politik innerhalb autoritärer Rahmenbedingungen gestalten«. Derzeit arbeitet er als Koordinator des Netzwerkes »Postcolonial Hierarchies in Peace and Conflict« am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg. Dabei beschäftigt er sich mit der Bedeutung von Sicherheitsregimes für Protestbewegungen und Kontinuitäten trotz wechselnder Herrschaft, beispielsweise im postkolonialen Pakistan. Mit ihm sprach Cyrus Salimi-Asl.

Aber können Sie auch neue Phänomene beobachten?

Tatsächlich neu ist, dass die sehr unterschiedlichen Protestgruppen zusammenkommen, dass die Proteste nicht wie 2018 nur in Kurdistan oder wie 2021 nur im Süden stattfinden, sondern dass auch Minderheitenfragen woanders vorkommen. Dass die Mittelschicht mit der Arbeiterschicht zusammenarbeitet. Dass auch Frauenrechtsthemen von sehr vielen Menschen mitgetragen werden, die sonst vielleicht nicht unbedingt bekannt sind für ihre feministische Haltung. Bei der Wut auf das System und dem Querschnittsthema Hidschab finden diese verschiedenen Gruppen zusammen. Neu ist für mich auch, dass Protestierende zunehmend auf Taktiken setzen, um sich Repressionen zu entziehen und Konfrontationen mit Sicherheitskräften zu überdauern. Eine große Kritik an den Protesten 2009 war, dass die Protestierenden keinen richtigen Plan oder zumindest funktionale Taktiken hatten, um mit starken Repressionen umzugehen. Aus den Protesten von 2017 und den harten Repressionen von 2019 haben sie gelernt und konfrontieren jetzt auch zunehmend Sicherheitskräfte, können diese teilweise sogar zurückdrängen. Das beobachte ich gerade mit großem Interesse.

Die Revolte begann mit den Protesten der Frauen gegen das Kopftuch und hat inzwischen weite Schichten der iranischen Gesellschaft erreicht: Studierende, Schüler*innen, Unterschichten sowie Arbeiter. Wie war diese Mobilisierung möglich, da es offenbar doch keine Anführer gibt?

Eine landesweite Oppositionsbewegung gab es faktisch im Iran nicht mehr, aber die Menschen, die gegen das System sind oder es kritisch sehen, die sind ja nicht verschwunden. Diese Menschen haben sich auf bestimmte Themen konzentriert und deren Mobilisierungen wurden eher toleriert oder konnten teilweise nicht bekämpft werden. So gab es durchaus weiter Mobilisierungen der Lehrergewerkschaften, die eine Organisationsstruktur hatten und es auch geschafft haben, zu Streiks aufzurufen. Es gab Mobilisierungen der Umweltbewegung und der Frauenbewegung. Auch in Kurdistan gab es immer wieder organisierte Streiks, so 2018, als die Grenze zum Irak geschlossen wurde. Man kann nicht davon sprechen, dass es gar keine Führung oder Organisation gibt: Es gibt sie im lokalen Bereich, in thematisch eng begrenzten Bereichen, es fehlt aber die landesweite Koordinierung.

Wie kam es dann jetzt zu dieser landesweiten Mobilisierung?

In »Ruptures«, also in kritischen Momenten, wo der Unmut mit dem politischen System sichtbar wird, wo sich das Gefühl verbreitet »Hier ist eine Chance, etwas zu bewirken«, mobilisieren diese sehr unterschiedlichen Gruppen immer ihre kleinste Organisationseinheit und daraus entsteht eine landesweite dezentrale Organisation. Aber die ist nicht koordiniert, hat auch nicht unbedingt einheitliche Ziele. Es ist sehr schwer, sich abzusprechen, um dann überall die gleichen Strategien zu benutzen. Das differenziert sich sehr stark aus, kann aber in der Breite sehr wirkmächtig werden. Und ich glaube, so sind diese Proteste auch möglich geworden: als Ergebnis der Repression der letzten Jahre und als Gegenreaktion der Protestierenden, die von vorneherein auf dezentrale Organisationsstrategien gesetzt haben.

Aufgrund der Internetblockade sind Einschätzungen der Lage von außen schwierig. Dennoch die Frage: Hat die Protestwelle eine gesellschaftliche Massenbasis?

Ich würde sagen Ja, es gibt eine Massenbasis, weil ich diese sehr heterogenen Protestgruppen sehe, die jetzt gleichzeitig hervortreten. Aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre weiß ich, dass diese für sehr unterschiedliche Teile der Gesellschaft stehen. Das sind teilweise ländliche Gruppen, gerade die Umweltproteste wurden stark außerhalb der Großstädte getragen. Das sind teilweise Proteste in Stadtvierteln, die man tendenziell mit der Arbeiterschicht verbindet, aber teilweise auch das Prekariat, also Menschen, die gar nicht in Arbeit stehen. Und natürlich Gruppen ethnischer Minderheiten, die gerade zu Beginn aber auch weiterhin die Basis dieser Proteste bilden und jetzt unterstützt werden durch die klassischen Mittelschichten. Das sind vor allem die Studierenden: Die spielen eine sehr wichtige Rolle, vor allem, wenn es darum geht, der Mobilisierung eine breitere Sichtbarkeit zu geben und sie aufrecht zu erhalten. Einfach dadurch, dass sie sich räumlich an einem Ort wie der Universität treffen, kommt ihnen eine entscheidende Rolle zu – gemäß der klassischen Theorie: Arbeiter am Arbeitsplatz können sich besser mobilisieren. Die Studierenden rücken solche Proteste aus der Peripherie ins Zentrum.

Manche Beobachter sprechen schon von einer bevorstehenden Revolution. Sehen Sie die Situation dafür schon reif?

Das frage ich mich jeden Tag. Ich bin ein bisschen vorsichtiger als manche anderen Leute, ich spreche aber auch schon seit Jahren von revolutionären Protesten. Die Zielrichtung ist für mich relativ klar. Das ist immer ein bisschen Haarspalterei: Kann es auch gescheiterte Revolutionen geben, oder sind Revolutionen erst Revolutionen, nachdem sie Erfolg hatten? Dass für sehr, sehr viele Protestierende eine Revolution das Ziel ist, daran habe ich keinen Zweifel. Dass die Praktiken in vielerlei Hinsicht revolutionär sind, daran habe ich ebenfalls keinen Zweifel. Die Frage ist, wie das am Ende ausgehen wird, und da bin ich halt noch ein bisschen vorsichtig. Aber ich würde auf jeden Fall von revolutionärem Charakter oder revolutionären Prozessen sprechen.

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