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Menschen im Hamsterrad

Zu Tränen gerührt: Olga Hohmann wurde Zeugin des Berlin-Marathons

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 5 Min.
Marathon und Menschlichkeit: Menschen im Hamsterrad

Neulich kam ich mal wieder in den Genuss öffentlichen Tränenvergießens. Es passierte gleich frühmorgens, auf dem Weg zur Arbeit. Ich hatte, wie jedes Jahr, das Datum des jährlichen Berlin-Marathons vergessen und war bereits zu spät dran – als mir um neun Uhr an der Friedrichstraße eine Menschenmenge entgegenströmte, deren Ursprung ich nicht einordnen konnte.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Erst als ich registrierte, dass alle dieselben Merchandise-Produkte dabeihatten, Plastik-Trinkbecher mit Strohhalm und einem mir unbekannten Logo, realisierte ich, dass es sich um Läufer*innen bzw. deren (meistens familieninterne) Fanbase handelte. Direkt vor meinem Arbeitsplatz wurde ich dann davon überrascht, dass ich zwar gerade so right in time war, es allerdings unmöglich schien, die Straße zu überqueren.

Weil ich also trapped, gefangen, am Straßenrand war, wurde mir das Glück zuteil, einen langen Moment in der anfeuernden Crowd zu stehen und die Läufer*innen zu beobachten. Zufällig waren es gerade die Spitzen-Runners, denen ich, an diesem für mich sehr frühen Samstagmorgen, zusah. Alle waren sehnig, durchtrainiert, allen sah man ihre Anstrengungen auf unterschiedliche Weise an. Manche hatten irgendwelche Snacks oder isotonische Getränke dabei, die sie beim Rennen zippten, alle hatten sich ein irgendwie elaboriertes Outfit überlegt. Manche waren im Partnerlook gekleidet und versuchten, miteinander Schritt zu halten; die meisten waren ganz eindeutig Einzelkämpfer*innen. Außer einem Mann, der extrem sportlich in seinem Rollstuhl mithielt, gab es kaum Vehikel – nur ab und zu ein Gefährt, auf dem sich Menschen mit Megafonen befanden, die rhythmisch alle anfeuerten.

Überall standen Ordner*innen, die Leuten wie mir verboten, die Straße zu überqueren. Ich selbst fühlte mich bei der ganzen Sache ein bisschen voyeuristisch – was vielleicht auch damit zu tun hat, dass ich maximal unsportlich bin und ebenfalls athletisch unambitioniert. Es würde mir nie in den Sinn kommen, mir freiwillig eine Qual jenes (für mich undenkbaren Ausmaßes) aufzuerlegen. Umso rührender fand ich allerdings, dass es diese in bunte Active Wear gekleidete Masse tat – die, wie ich feststellte noch nicht mal eine anonyme Menge war, denn alle hatten an ihrem Oberkörper Schilder umgebunden, auf denen ihre Startnummer und der jeweilige Vorname zu lesen waren.

Ich stand also wie eine Schaulustige neben einer weißhaarigen Blaskapelle, die Beatles-Hits spielte, und hörte fremden Menschen neben mir dabei zu, wie sie anderen (auch für sie fremden) Menschen ermutigend ihre Vornamen zuriefen: »Harald, das schaffst du!«, »Mehmet, weiter so!«, »Doris, Doris, Doris!« oder: »Kimberley, lauf!« Eine Gruppe Jugendlicher lachte sich halb tot, während Einzelne aus ihrer Gruppe abwechselnd neben einzelnen Läufer*innen herrannten und ermutigend auf sie einredeten, wobei sie stetig den jeweiligen Vornamen wiederholten. »Ob-La-Di, Ob-La-Da« spielte die Blaskapelle ebenso vergeblich ambitioniert mit hochroten, nach Luft schnappenden Gesichtern, wie die Läufer*innen nach Luft schnappten und dabei versuchten, sich lächelnd bei ihren unbekannten Unterstützer*innen zu bedanken.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis mir ob der rührenden Anstrengung der anderen Tränen in die Augen schossen – und als die uralte Blaskapelle »Penny Lane« spielte, war es dann völlig um mich geschehen und ich heulte drauflos. Die gesamte Tragik der Menschen in ihrer wunderschönen Aussichtslosigkeit, das hilflose Zeitverbringen auf diesem seltsamen Planeten, berührte mich zutiefst. Plötzlich kam mir der ganze Aufenthalt auf der Erde, das Leben, wie eine Art Sisyphusarbeit vor, und ich realisierte wieder einmal, dass Menschen eben tatsächlich meine Lieblingstiere sind. Wie ein selbst auferlegtes, selbst gebautes Hamsterrad – und es gilt, die Zeit unter möglichst hoher Anstrengung totzuschlagen.

Wegen meines unvorhersehbaren Gefühlsausbruchs brach auch der Damm der am Straßenrand stehenden Menge; ich löste mich aus ihr und tanzte um einzelne leise auf mich schimpfende Individuen mit Vornamen auf dem Oberkörper herum über die Straße und zur Arbeit – wo ich mir das verheulte Gesicht waschen musste.

Als ich ein paar Stunden später wieder aus dem Gebäude herauskam, stiegen mir sofort wieder die Tränen in die Augen, denn dieses Mal waren es nicht die Spitzenläufer*innen, sondern die (noch rührendere) Nachhut, die zum Großteil nur noch gehend die letzten Meter hinter sich brachte. Auch die Masse war geschwunden, nur noch vereinzelt wurden die Vornamen jener wenigen gerufen, die sich tatsächlich auch im Endspurt noch quälten.

Dieses Mal musste ich nicht hin und her tänzeln, um es über die Straße zu schaffen, ich spazierte einfach gemütlich quer über die Rennbahn und war dabei wenig langsamer als die Marathonist*innen, eher schneller. Im U-Bahnhof lagen überall die Trinkbecher mit dem mir bisher unbekannten Maskottchen herum: ein Felltier, das ich keiner Spezies zuordnen konnte. Ich nahm einen dieser Becher mit – allein schon, um mich auf dem Nachhauseweg der kollektiven Erfahrung zugehörig zu fühlen.

Meine Mutter schickte mir ein Foto des diesjährigen Gewinners. Er sieht im Moment, in dem er das Band durchbricht, tatsächlich ein bisschen otherwordly aus, federleicht, gar nicht so, wie die durch ihre eigene Schwerkraft gepeinigten Läufer*innen, die ich beobachtet hatte. Seine Beine scheinen fast zu fliegen, er hüpft leichtfüßig an den Kameras vorbei, den weltlichen Anstrengungen entrückt. Vielleicht sind doch nicht alle Menschen Hamster.

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