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Kotzen wie eine Katze

Eine tragische Coming-of-Age-Geschichte auf Teneriffa, die Neokolonialismus und Feminismus mitverhandelt: »So forsch, so furchtlos« von Andrea Abreu

  • Marit Hofmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist im wahrsten Sinne zum Kotzen, das Aufwachsen in der Bergprovinz Teneriffas, fernab der Postkartenidylle des Tourismus, der dennoch das Leben hier bestimmt – es gar zerstört, wie die dort 1995 geborene Autorin Andrea Abreu sagt. Ihre für die Touris schuftenden Eltern bekommt die Erzählerin von Abreus international gefeiertem Debütroman selten zu Gesicht, sie und ihre beste Freundin Isora wachsen bei ihren abergläubischen Großmüttern auf. Isora nennt ihre »Bitch« und macht ihr weis, das sei das englische Wort für Oma.

Der ersehnte Strand scheint ohne Auto schier unerreichbar und alles, was cool ist, auch; das weltweite Netz und seine Chatrooms sind allenfalls in einem sterbenslangweiligen Computerkurs zugänglich, wenn der Lehrer gerade nicht guckt. Nur die gängigen Schönheitsideale und Rollenbilder sind dank Telenovelas und Barbies hier oben angekommen, weshalb Isora »kotzte, wie andere sich die Zähne putzen«. Abreu beschreibt die Essstörung gleich zu Beginn des Buchs in lautmalerischen Details. »Isora kotzte wie eine Katze. Uckukuck, und die Kotze platschte ins Klo, um vom unermesslichen Untergrund des Insel aufgenommen zu werden.«

Nichts da vom Schatten junger Mädchenblüte, die beginnende Pubertät stinkt hier animalisch zum stets wolkenverhangenen Himmel. Da wird gepopelt, Blut geleckt, Durchfall herbeigesehnt, gemeinsam die »Mimi gerubbelt«, wie bisher nur Jungs rudelwichsen durften in der Literatur – Eingeweide, Fäkalien und Vulgärsprache ziehen sich durchs Buch wie Kackstreifen durch die in der Poritze klemmende Unterhose. Das ganze Bergdorf ist in der Beschreibung der Erzählerin sexuell aufgeladen: »Die Häuser ganz oben wuchsen aus dem Boden wie Hoden unterm Pimmel.«

In einem Interview sagte die 1995 geborene Autorin: »Von kleinen Mädchen wird erwartet, dass sie besonders sauber und rein daherkommen.« Sie habe »oft Lust, die Welt zu einem dreckigeren Ort zu machen, allein schon deshalb, weil wir Mädchen wenig Gelegenheit dazu hatten«. Wobei auch sie selbst – wie die forschen Forscherinnen im Roman – die Barbies, die so aussahen, »wie ich als Mädchen aussehen wollte«, als »Versuchsobjekte für sexuelle Spiele« umfunktioniert hat. »Die Figuren, die am Rande der Gesellschaft leben, genießen eine Freiheit, die andere soziale Gruppen nicht haben. Da niemand sie beachtet, können sie sich ungestört danebenbenehmen.« Allerdings rasseln die beiden Freundinnen im Roman danach vorsichtshalber ein paar Gebete runter, um nicht den Zorn der heiligen Jungfrau oder einen Ausbruch des über ihnen dräuenden Vulkans heraufzubeschwören. Als eine alte Frau Isora den »bösen Blick« austreiben soll, bricht Abreu die von religiösem Singsang begleitete Zeremonie auf ihre banale Körperlichkeit herunter und gibt die Versuche, die Mädchen zu disziplinieren, so der Lächerlichkeit preis.

Wenn sich auch das hiesige Feuilleton ob solcher vermeintlichen Tabubrüche regelrecht bepisst, könnten Voyeurismus und Exotismus mitschwingen. Es sind vor allem Deutsche, die Land und Häuser auf Teneriffa aufkaufen. Abreu, die bereits in der Schule und bei ihrem Studium in Madrid Klassismuserfahrungen machte, bleibt dem Literaturbetrieb gegenüber jedenfalls misstrauisch: »Leute können meinen Roman feiern … – aber vielleicht haben sie ihre eigene Beziehung zur Arbeiterklasse trotzdem nicht reflektiert.« Die Ausschlusskriterien neokolonialer Ausbeutung erfährt Shit, wie Isora die Erzählerin tauft, wenn sie zusieht, »wie sie ihre Touri-auf-der-Finca-Sachen machten, während ich kehrte. Ich stellte mir vor, ich wäre ein Gast … aber plötzlich sprangen sie in den Pool … und mir brannte die Hitze auf den Schädel, und auf einmal hatte ich die Wand aus Cellophan vor meinen Augen und merkte, dass ich kein Gast war, sondern die Tochter der Putzfrau, wie die Leute sie nannten, und wenn ich die Blätter nicht aufsammelte, würde meine Mutter schimpfen.«

Shit fühlt Ohnmacht auch auf anderen Ebenen: in der Eifersucht, als sich ihre Freundin für Jungs zu interessieren und von ihr abzuwenden beginnt, in der Unfähigkeit, Isora ihre Liebe zu gestehen und sie von ihren Suizidgedanken zu heilen – von der Traurigkeit, die sich einstellte, »wenn die Telenovela vorbei war und wir uns die Stirn an den Wolken stießen«. Die kurzen Episoden der vergeblichen Ausbruchsversuche der Mädchen unterbrechen zwei in kleinen Lettern gehaltene Kapitel: Shits morbide homoerotische Fantasien, die dafür sorgen, dass hier niemand romantisch glotzt. »ich hab isora zum fressen gern will sie aufessen und ausscheißen damit sie mir gehört die kacke aufbewahren in einer schachtel.«

Dennoch ist es von großer Eleganz, wie Abreu katalanischen Slang, explizite Reggaeton-Lyrics, poetische Bilder, Onomatopoesie und Obszönitäten in einer tragischen Coming-of-Age-Geschichte verbindet und dabei große Themen wie Neokolonialismus und Klassismus, Queerness und Feminismus wie nebenbei mitverhandelt. Dass die Subalterne sprechen kann, sollte in der Literatur längst angekommen sein. Weshalb es übertrieben erscheint, wenn der »Spiegel« Abreus fraglos forsches und furchtloses Debüt eine »literarische Revolution« nennt. Oder um es mit Isora zu sagen: Ey, Shit, sind die bescheuert?

Andrea Abreu: So forsch, so furchtlos. A. d. Span. v. Christine Quandt, Kiepenheuer & Witsch, 192 S., geb., 20 €.

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