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Poesie des Abgrunds

Eine provokante Meditation: Der italienische Film »Il Buco – Ein Höhlengleichnis« ist eine Reise in die zweittiefste bekannte Höhle der Welt

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Wie unscheinbar erscheint dieser Spalt in einer zerklüfteten Landschaft! Und doch geht es 700 Meter tief hinab.
Wie unscheinbar erscheint dieser Spalt in einer zerklüfteten Landschaft! Und doch geht es 700 Meter tief hinab.

Offenbar gibt es nicht mehr viel zu sagen. Dafür zu sehen? Je nachdem, welche Erwartungen man an »Il Buco – Ein Höhlengleichnis« von Michelangelo Frammartino hat. Ein irritierender Film ohne Dialog und gesprochenen Kommentar. Er übt sich im Gleichnishaften, das etwas Hermetisches bekommt.

Irgendwie sitzt man als Zuschauer in diesem Film selbst wie gefangen in einer dunklen Höhle. Regisseur Frammartino würde das wohl kaum als Kritik auffassen, denn der Effekt ist gewollt. Im engen Dunkel einer Höhle, tief unter der Erdoberfläche wird jeder Lichtstrahl zum Hoffnungsträger? Das ähnelt der Situation des Zuschauers im Kino. Nun denn, Hauptsache man findet am Ende den Ausgang, der wirklich ins Freie und nicht in eine weitere Höhle führt.

Der Titel des Films lässt unweigerlich an Platons Höhlengleichnis in seiner »Politeia« denken. Ein Dialog über die unkomfortable Situation des erkennen wollenden Menschen. Denn dieser sitzt in einer Höhle gefangen, in seinem Rücken befindet sich ein Ausgang, den er aber nicht sieht, und hoch oben hinter ihm brennt ein Feuer, das alles, was sich ereignet, als Schatten auf die Wand vor ihm projiziert. Mehr als diese Schatten, so Platon, nehmen wir mit unseren Sinnen nicht wahr. Die ganze Schattenwelt aber ist ein Trugbild – nur die Ideen, die wir natürlich nicht sehen, an denen wir nur denkend teilhaben können, sind wahr. Geht es hier letztlich um einen Streit der Projektionen, die unsere einzige – höchst ungenügende – Brücke zur Erkenntnis sind?

Wer nun annimmt, dass es Frammartino unternimmt, Platons Höhlengleichnis zu verfilmen, der irrt. Es kommt hier gar nicht vor. Dieser Film ist sein eigenes Höhlengleichnis, das sich sehr im mystischen Schwelgen von Tiefe und Dunkel gefällt.

Dabei ist der Anstoß kein übler. Es ist ein Loch, ein Riss in der Erde, irgendwo in den Bergen des Apennin zwischen der Basilikata und Kalabrien. Hier sind nur Schäfer mit ihren Herden zu Hause. Wie unscheinbar erscheint dieser Spalt in einer zerklüfteten Landschaft! Und doch geht es 700 Meter tief hinab, es ist die zweittiefste bekannte Höhle der Welt.

Frammartino erinnert in einem Begleittext zum Film an das Jahr 1961, als die Höhle erstmals erforscht wurde. Ein Beitrag zur Vermessung der Welt – nun weit unterhalb der Erdoberfläche. Es war die Zeit des italienischen Wirtschaftswunders, wo man hoch hinaus wollte. Bereits 1958 hatte man in Mailand den 127 Meter hohen Pirelli-Turm gebaut. Die Sowjetunion begann mit der Erforschung des Weltalls – und hier in den einsamen Bergen des Apennin seilten sich ein halbes Dutzend junger Männer in eine unbekannte Höhle hinab und wussten nicht, ob sie sie jemals wieder verlassen würden. Denn von der Aktion hatte kaum jemand Kenntnis. Nur ein alter Schäfer beobachtet sie. Er ist der einzige, der hier spricht – aber zu seinen Tieren in einer uns unverständlichen Lautsprache, die an Dada-Kunst erinnert.

Ist es eigentlich erlaubt, sich die verborgenen Geheimnisse der Erde anzueignen, sie in schnöde Zahlen umzurechnen und auf Karten festzuhalten? – so fragt Frammartino, aber nicht im Film, der ist ja bis auf Naturlaute stumm, sondern im erläuternden Begleittext. Die Geheimnisse gehören für ihn ins Reich der Mythen und Sagen – hätten sie nicht vor dem (wenn auch vielleicht nicht vorsätzlichen) »Akt der Kolonisierung« durch die jungen erkenntnishungrigen Höhlenforscher von 1961 geschützt werden müssen? So fragt er ganz ernsthaft.

Dies ist allerdings eine im Sinne Platons unzulässige Frage, denn sie ist in hohem Maße geistfeindlich. Kein Fortschritt wäre so denkbar. Überhaupt, was ist das für eine bizarre Vorstellung von verbotener Erkenntnis? Die gute Nachricht an den Regisseur: Mythen und Sagen, gleich ob sie Meerestiefen oder Berge mitsamt Höhlen betreffen, werden von nüchterner naturwissenschaftlicher Aufklärung gar nicht betroffen. Denn es sind Fantasiewelten, wie sie etwa E.T.A. Hoffmann in »Das Bergwerk zu Falun« schuf, mitsamt der »Kupferkönigin« in der Tiefe – die jedem, der sie erblickt, mit Unheil droht. Das sind magische Welten, die an der Schwelle der Religion zur Kunst stehen – aber sie beim Wort zu nehmen, wissenschaftliche Erkenntnis gar zu verbieten, um sie zu schützen, wäre ein kurioser gedanklicher Kurzschluss mit fatalen Folgen.

Frammartino erweist sich glücklicherweise als viel zu neugierig, um sich den Konsequenzen seiner eigenen Überlegungen zu überlassen. Er spielt für seinen Film die Erforschung des Abgrunds der Höhle von Bifurto von 1961 noch einmal nach. Wieder sitzt der alte Schäfer am Rand – und während die Truppe junger Höhlenforscher wortlos in die Tiefe hinabklettert, stirbt er einen stillen Tod in seiner Hütte. Es ist ein Mysterium – mit Ansage.

Ist das nun ein durch und durch irrational aufgeladener Film, der sich vehement gegen die moderne Welt stellt? Nein, es ist eine provokante Meditation, die in all ihrer fragmentarischen Skepsis eine noch stärkere poetische Wirkung erlangt hätte, wenn der Regisseur sich nicht zu dieser Art von reichlich mystizistischer Selbsterklärung hätte hinreißen lassen. Denn diese greift viel kürzer als die Bilder, die hier immer zwischen lichtem Himmel und tiefer Dunkelheit hin und her schwingen. Doch es gibt nebenbei auch ein kluges Bemerken, etwa wenn der Regisseur über die Persönlichkeit eines Bergsteigers nachdenkt, der auf Gipfel klettert, um gesehen zu werden und dagegen den Höhlenkletterer stellt, der ungesehen im Berg verschwindet – vielleicht für immer.

Ich denke bei »Il Buco – Ein Höhlengleichnis« auch an Franz Fühmanns literarisches Bergwerksprojekt, das am Ende scheitern musste, weil das Zugleich von Bergwerk als Industrie und mythischem Ort für einen Erzähler zu überdimensioniert war. Aber die Höhle war Fühmann etwas anderes: Auf der Flucht vor der politischen Frustration bei Tage wurde der Berg zu einem nächtlichen Fluchtraum, zur poetischen Lebensform. Ein Ausdruck wachsenden existenziellen Unbehagens. Vielleicht ging es Frammartino mit seiner Reise in den Abgrund ja ähnlich?

»Il Buco – Ein Höhlengleichnis«: Italien, Frankreich, Deutschland 2021. Regie: Michelangelo Frammartino, 93 Minuten, Start: 10. November.

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