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  • Fußball-WM 2022 in Katar

Verschüttet im Zementhaufen

Die ungeklärte Zahl von Todesfällen im Zusammenhang mit der WM in Katar wirft ein Schlaglicht auf das weltweite Problem mit Wanderarbeitern

  • Frank Hellmann
  • Lesedauer: 5 Min.
Im Schatten der WM: Arbeiter vor dem Stadion 974 in Doha.
Im Schatten der WM: Arbeiter vor dem Stadion 974 in Doha.

Es sind Bilder, die zur besten Sendezeit erschüttert haben. Nicht umsonst hat der vielfältig engagierte DFB-Botschafter Thomas Hitzlsperger seine ARD-Reportage »Katar – warum nur?« in Nepal begonnen – eine der ärmsten Regionen der Welt. Rund 30 Millionen Einwohner leben hier, fast die Hälfte unterhalb der Armutsgrenze. Ohne Strom und fließend Wasser. Es sind die Gebiete, aus denen sich die Abertausenden von Wanderarbeitern auf den Weg machen, um für geringe Löhne tagaus, tagein, oft jahrelang unter schwierigsten Bedingungen die Versorgung ihrer Familien zu garantieren.

Als Reporter reiste Hitzlsperger zu einer Frau mit zwei Kindern nahe der indischen Grenze in die Provinz Madhesh. Die Schilderungen der schmächtigen Saraswoti Devi Chaudhari vor der Kamera berührten: Ihr Ehemann ging kurz nach der Vergabe der WM als Arbeiter ins Wüstenemirat. Zwei Jahre dauerte es, um den Kredit für die Reise abzubezahlen. Am 30. Dezember 2017 starb er in einem Zementhaufen – verschüttet und erstickt. Verunglückt auf einer WM-Baustelle. Mit nur 40 Jahren.

Er kam tot in einem der in Folie gewickelten Särge zurück, die am Flughafen Katmandu in Lastwagen geschoben werden, um sie nach Hause zu ihren Angehörigen zu bringen. Und das ist beileibe kein Einzelfall, auch wenn die Zahl der wirklich auf den WM-Baustellen ums Leben gekommenen Arbeitsmigranten wohl für immer ungeklärt bleibt, weil Katar die Todesursachen nicht explizit zugewiesen hat. Es gibt nur die offizielle Zahl von 15 799 Nicht-Kataris, die aus dem Amnesty-International-Report nach Angaben der katarischen Behörden zwischen 2011 bis 2020 starben. Darunter sind neben Arbeitern auch Sicherheitsleute oder Gärtner, genau wie Lehrer, Ärzte, Ingenieure oder Geschäftsleute.

Grundsätzlich kann eine WM solche Opfer nicht wert sein. Warum haben der Weltverband Fifa und die katarischen Organisatoren so wenig dagegen getan? Was ist den Menschen auf den Baustellen widerfahren? Nicht nur der frühere Nationalspieler und Bundesliga-Manager Hitzlsperger stellt sich solche Grundsatzfragen, die ihn wie viele andere an diesem Turnier zweifeln lassen, das am Sonntag mit viel Brimborium eröffnet wird. Bereits im Sommer hat Dietmar Schäfers auf Einladung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) in Herzogenaurach einen Vortrag gehalten, dem auch deutsche Nationalspieler lauschten. Seine Ausführungen begannen damit, dass es 200 Millionen Wanderarbeiter weltweit gebe, die »zu beschissenen Bedingungen« arbeiten, so Schäfers damals wörtlich. In Katar sind es 900 000 Bauarbeiter, nach seinen Angaben waren 40 000 bis 45 000 für die WM-Stadien tätig. Deren Opfer drücken eine Problematik aus, die aus der weltweiten Ungleichheit rührt.

Schäfers ist seit 2009 Vizepräsident der globalen Gewerkschaftsförderation Bau- und Holzarbeiter Internationale (BHI) mit Sitz in Genf, wo er die Bereiche Mega Sport Events, Arbeit- und Gesundheitsschutz und Menschenrechte verantwortet. Mehrfach ist er in Katar gewesen. Das erste Mal 2013 – und was er dort vorfand, hat ihn zuerst erschreckt. Bis zu einem Dutzend Arbeiter eingepfercht in einem kleinen Raum, schlechte Essensversorgung und hygienische Verhältnisse, quasi keinen Arbeits- und Gesundheitsschutz. »Wir haben das damals öffentlich kommuniziert, unsere Kampagne hieß ›Red Card for FIFA – No World Cup without Workers rights‹. Das gefiel der Regierung in Doha gar nicht«, erinnert er sich.

Im Laufe vieler Gespräche hat der 67-Jährige die Erfahrung gemacht, »dass wir mit Kooperation und Diplomatie in dem autokratisch geführten Staat mehr erreichen können. Und es hat sich auf den WM-Baustellen vieles zum Positiven verändert«. Natürlich ist noch nicht alles gut, längst nicht, aber das katarische Supreme Committee (SC), das für sämtliche Bau- und Infrastrukturprojekte der WM verantwortlich ist, hat aus seiner Sicht erste Reformprozesse angestoßen. »Katar hat sich bewegt«, sagte Schäfers schon vor einigen Monaten im Beisein von DFB-Direktor Oliver Bierhoff und Bundestrainer Hansi Flick.

Zur Wahrheit gehört für den internationalen Gewerkschaftler, der jüngst auch Innenministerin Nancy Faeser und DFB-Präsident Bernd Neuendorf bei ihrer Katar-Reise begleitete, aber auch: Außerhalb der WM-Baustellen ist es nur langsam vorangegangen, die Ausbeutung der Wanderarbeiter wurde auch in Katar nicht beendet. Nicht gezahlte Löhne, eingezogene Pässe bleiben Kardinalprobleme. Schäfers: »Die Durchsetzungen der Reformen läuft schleppend.« Er wirbt allerdings um Verständnis: Was in deutscher Wahrnehmung nur kleine Schritte sind, seien für die Kataris Riesenschritte. Innerhalb der konservativen Familien in dem autokratischen Regime unter der Herrschaftsfamilie würden echte Auseinandersetzungen stattfinden, wie mit Wanderarbeitern künftig umgegangen werden soll. Aber schon jetzt sei Katar weiter als etwa Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate, die sich fürchten, durch Katar in der Golfregion unter Zugzwang zu geraten. Dubai hat bei den Bauten rund um die Expo 2020 erst gar keine Gewerkschaftsvertreter ins Land gelassen.

Der mit der Familie in Gelsenkirchen lebende Schäfers, der aus seiner Vorliebe für den FC Schalke 04 gar keinen Hehl macht, unterstützt natürlich die Anstrengungen für ein sogenanntes »Migrant Workers Center« als Anlaufstelle für die Arbeiter. Darauf dringt auch der DFB mit Vehemenz; es ist eine der wichtigsten Botschaften, die Neuendorf öffentlich rüberbringt. Und es steht die Zahl von 440 Millionen Dollar im Raum, die als Entschädigung an die Familien von verletzten und getöteten Wanderarbeitern gezahlt werden soll.

Noch immer mauert die Fifa bei diesem Thema. Schäfers hat gehört, dass der Weltverband einen Betrag bereitstellen wird, der jedoch deutlich unter dieser Summe liegen soll. Bei Saraswoti Devi Chaudhari ist bis heute nichts angekommen. Am Fuße des Himalaya, wo die Landbevölkerung von weniger als drei Dollar am Tag leben muss, würde auch ein kleiner Betrag der 42 Jahre alten Witwe schon etwas bringen. Den Schmerz über den Verlust des wichtigsten Menschen in ihrem Leben kann auch noch so viel Geld nicht lindern.

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