Verantwortlich ist Russland

Drei Schuldsprüche und ein Freispruch in Prozess um MH17-Abschuss

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Angehörige und andere Betroffene lauschen dem Urteilsspruch in Den Haag zu MH 17.
Angehörige und andere Betroffene lauschen dem Urteilsspruch in Den Haag zu MH 17.

17. Juli 2014, 12:31 Uhr. In Amsterdam-Schiphol hebt eine Boeing 777 der Malaysia Airways ab. Ziel ist Kuala Lumpur. Zwei Stunden und 49 Minuten später endet Flug MH 17 abrupt über der Ostukraine. 298 Menschen sterben. Man erinnert sich an Fotos und Fernsehberichte, die für die Ewigkeit im Internet abrufbar sind: zerfetzte Flugzeugteile zwischen leuchtend schönen Sonnenblumen, Koffer und Spielzeug liegen herum. Überall sind Leichen, viele noch in ihren Sitzen angeschnallt.

Seither ermitteln Forensiker, Kriminalisten, Luftfahrtexperten, Journalisten, Juristen. Allerlei Geheimdienste versuchten, Fäden zu führen. Fünf direkt betroffene Länder – Australien, Belgien, die Niederlande, Malaysia und die Ukraine – bildeten eine gemeinsame Ermittlungsgruppe. Deren Fragen waren simpel: Geschah der Abschuss vorsätzlich oder war es ein Unfall? Und: Wer ist verantwortlich für das Verbrechen? Mehrfach wurde ein internationales Tribunal gefordert. Doch vor ein UN-Gericht schaffte es der Fall nicht, weil Moskau das im Sicherheitsrat per Veto blockierte. Also eröffnete die niederländische Regierung ein Verfahren – immerhin stammten 193 von 298 Opfern aus den Niederlanden.

Angeklagt waren: Igor Girkin (»Strelkow«), einstiger Verteidigungsminister der selbsternannten Volksrepublik Donezk, Generalmajor Sergej Dubinskyj, Oberst Oleg Pulatow und der Ukrainer Leonid Chartschenko. Alle bestritten ihre Schuld, nur Girkin – der nach seinem vermutlich von Moskau erzwungenen Rückzug aus der Verantwortung als Kriegsblogger präsent ist – verspürte eine »moralische Verantwortung«. Die Staatsanwaltschaft forderte lebenslange Haftstrafen für alle Angeklagten, die dem Prozess generell fernblieben.

Das Gericht sprach zwei Russen und einen Ukrainer schuldig. Ein weiterer Angeklagter bekam einen Freispruch. Pulatow wurde freigesprochen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Verurteilten in absehbarer Zeit eine Strafe verbüßen werden. Die im Livestream übertragene ausführliche Urteilsbegründung durch den Vorsitzenden Richter Hendrik Steenhuis dauerte mehr als zwei Stunden. Grundsätzlich ging das Gericht davon aus, dass Russland zur fraglichen Zeit die Kontrolle über die separatistische Volksrepublik Donezk hatte, von wo das Flugzeug attackiert wurde.

Seit Beginn der Ermittlungen gab es Kritik an den Recherchen. Ihnen fehle, so der Vorwurf, die Unparteilichkeit. Zeitweise konnte man auch den Eindruck gewinnen, die Internetplattform Youtube sei der eigentliche Gerichtsstand.

Selbsternannte Ermittler-Teams, vor allem die von London aus operierende Investigativ-Plattform »Bellingcat«, konnten nach eigener Aussage den Weg einer Buk aus einer russischen Kaserne bis zum Abschussort nachvollziehen und zeigen, dass die Abschussrampe mit einer Rakete weniger zurückkehrte. Es gibt zahlreiche Material-, Radar- und Flugschreiberanalysen, Zeugen wurden gehört, Fotos ausgewertet, die Ankläger stützten sich auf vom ukrainischen Geheimdienst abgefangene Telefonmitschnitte führender Separatisten.

Das Gericht in Den Haag zweifelte nicht daran, dass die Boeing mit Hilfe eines Buk-1-Flugabwehrsystems zerstört wurde, das auf Separatistengebiet Stellung bezogen hatte. Das Waffensystem wurde zu Zeiten der Sowjetunion hergestellt und gehört zur Ausrüstung der russischen wie der ukrainischen Streitkräfte. Beide Seiten verwiesen daher auf die jeweils andere. Dass Russland, das an den Untersuchungen so gut wie nicht beteiligt wurde, eine Mitschuld bestritt und weiter bestreitet, wurde als Lüge gewertet. In der Tat, in Moskau wurden viele Nebelbomben gezündet. Doch nicht nur dort. Seltsam bleibt, dass die USA unmittelbar nach dem Abschuss behaupteten, sie könnten anhand von Aufzeichnungen ihrer Spionagesatelliten die Täterschaft zweifelsfrei nachweisen. Diese Beweise wurden nie vorgelegt.

Der jetzt beendete Strafprozess ist nicht die einzige juristische Auseinandersetzung zum Fall MH17. Zwei Sammelklagen liegen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Die Kläger verlangen von Russland Entschädigungen in Höhe von mindestens 6,4 Millionen Euro für jeden getöteten Passagier. Da Russland im März 2022 den Europarat verlassen hat, ist das Land nun außerhalb der EGMR-Reichweite. Nicht jedoch die Ukraine. Vier Angehörige von MH17-Opfern klagen die Regierung in Kiew an. Aus ihrer Sicht tragen die ukrainischen Behörden eine Mitschuld, weil sie die Flugrouten über das Konfliktgebiet nicht ausreichend sperrten.

Das Bezirksgericht Den Haag fällt sein Urteil vor dem Hintergrund globaler politischer Umwälzungen, die durch Russlands Krieg gegen die Ukraine ausgelöst wurden. Manche sehen in dieser Form der juristischen Aufarbeitung ein Beispiel dafür, wie man in der Ukraine begangene Kriegsverbrechen sühnen kann. Zweifel daran sind legitim.

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