Ein Schritt vor, zwei zurück

Die Friedrichstraße darf von Autos befahren werden, in der Charlottenstraße bekommen Radfahrer Vorfahrt

  • Yannic Walther
  • Lesedauer: 5 Min.
Zögerlich trauen sich am Mittwoch wieder Autos auf den seit 2020 für sie gesperrten Abschnitt der Friedrichstraße.
Zögerlich trauen sich am Mittwoch wieder Autos auf den seit 2020 für sie gesperrten Abschnitt der Friedrichstraße.

Seit null Uhr am Mittwoch darf die Friedrichstraße wieder komplett von Autos befahren werden. Die Durchfahrtssperre, die den 500 Meter langen Abschnitt zwischen der Französischen und Leipziger Straße seit 2020 für Autos abgeriegelt hatte, wurde inzwischen aufgehoben. Selbst Hand angelegt hat dabei auch ein Frontkämpfer der Autofahrer: FDP-Fraktionsvorsitzender Sebastian Czaja ließ sich beim nächtlichen Wegtragen vermutlich selbst auf die Fahrbahn gestellter Absperrungen ablichten. Es ist ja schließlich Wahlkampf.

Während es auf der Friedrichstraße einen Schritt zurück ging, machte der Bezirk Mitte auf der parallel verlaufenden Charlottenstraße am Montag einen Schritt vorwärts. Denn diese ist nun eine Fahrradstraße. Dass Radfahrer weiter in Nord-Süd-Richtung eine Radstraße vorfinden, wird nicht nur zum subjektiven Sicherheitsempfinden in der verkehrsreichen Mitte Berlins beitragen. Doch vielen Maßnahmen, die das Land und die Bezirke gern für mehr Verkehrssicherheit erlassen würden, legt die aktuelle Straßenverkehrsordnung (StVO) in Verantwortung des Bundes Steine in den Weg.

»Die StVO verlangt, dass Verkehrssicherheit mit Blut erkauft wird«, brachte Inge Lechner von der Initiative Changing Cities die Lage kürzlich auf den Punkt. Denn für die StVO sind die Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs maßgeblich. Es muss oft erst ein Unfall passieren, bevor Maßnahmen ergriffen werden können. Das ist auch der Fall, wenn Berlin auf Hauptstraßen Tempo 30 umsetzen will. Neben der Sicherheit besteht eine andere Möglichkeit zur Veränderung, wenn die Schadstoffbelastung an den Straßen durch eine geringe Geschwindigkeit reduziert werden kann. Damit hört es aber fast auch schon auf.

Immer wieder appellieren die Kommunen deshalb an das Bundesverkehrsministerium. Im Frühjahr forderte der Deutsche Städte- und Gemeindebund, die lokale Ebene solle mehr Entscheidungsbefugnisse bekommen. Auch die Verkehrsstadträte aller Berliner Bezirke schrieben im Oktober einen Brandbrief an Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP). Sein Staatssekretär antwortete ihnen mit dem Verweis auf den Koalitionsvertrag im Bund. Dort vereinbarten SPD, Grüne und FDP, dass die StVO so angepasst werden soll, dass auch der Klimaschutz oder Ziele bei der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden können. »Hierdurch sollen den Ländern und Kommunen größere Entscheidungsspielräume eröffnet werden«, schrieb Staatssekretär Guido Zielke. Gleichzeitig vertröstete er auf die Konferenz der Verkehrsminister der Länder, die sich am Dienstag nächste Woche mit der Frage beschäftigen soll.

»Es müssen Meilensteine gesetzt werden in der bundesdeutschen Verkehrsdebatte, damit wir weiter vorankommen und bei den Kommunen die Fesseln gelöst werden«, sagte der verkehrspolitische Sprecher der Linksfraktion Kristian Ronneburg am Mittwoch im Mobilitätsauschuss des Abgeordnetenhauses. Dort ging es noch einmal um die »Vision Zero«, nach der auch Berlin anstrebt, die Zahl der Verkehrstoten auf null zu reduzieren. 29 Verkehrstote verzeichnet Berlin bisher in diesem Jahr, in den letzten Wochen sorgten einige tragische Unfälle für Aufsehen. Oft wird der Vergleich mit skandinavischen Städten bemüht, um zu zeigen, wo es hingehen könnte. Beispiel Helsinki: 2018 wurde die Höchstgeschwindkeit auf 30 und auf großen Verkehrsachsen auf 40 Stundenkilometer begrenzt. Im Jahr darauf kam kein einziger Fußgänger oder Radfahrer im Verkehr ums Leben.

Klar, dafür waren auch andere Maßnahmen wichtig. Ebenso kann Tempo 30 nicht jeden Unfall verhindern wie beispielsweise solche, bei denen Radfahrer rechtsabbiegenden Kraftwagenfahrern zum Opfer fallen. Doch die Chance, Unfälle zu überleben, steigt mit der sinkenden Geschwindigkeit. »Wir brauchen insgesamt weniger Autos und müssen langsamer fahren, wenn wir das mit der Vision Zero hinbekommen wollen«, sagte Berlins Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) am Mittwoch.

Um das umsetzen zu können, ist nicht nur mehr Spielraum durch den Bund nötig. Am Ende müssten Maßnahmen auch kontrolliert und geahndet werden, damit sich Autofahrer daran hielten, bekräftigte Jarasch. Die Antwort auf eine Anfrage von Politikern der Grünen-Fraktion hatte diese Woche ergeben, dass dem Land in diesem Jahr Bußgeldeinnahmen in Höhe von 1,2 Millionen Euro entgangen waren, weil die Bußgeldstelle Fristen verpasst hatte.

»Wir sehen uns der Vision Zero verpflichtet, müssen aber mit unseren Einsatzkräften haushalten«, sagte Frank Schattling, Leiter des Verkehrsstabs der Landespolizeidirektion, am Mittwoch. Bei Kontrollen von Geschwindigkeitsverstößen gehe man nicht nach dem Gießkannenprinzip vor, sondern kontrolliere verstärkt dort, wo vulnerable Verkehrsteilnehmer unterwegs seien, beispielsweise wenn vor Senioreneinrichtungen oder Schulen Tempo 30 angeordnet sei.

Vor Schulen Tempo 30 anzuordnen, sei im Übrigen noch einfach, erklärte im Mobilitätsausschuss Christian Haegele von der Unfallkomission der Senatsmobilitätsverwaltung. »Bereits auf dem Schulweg müssen wir aber im Einzelnen begründen, warum das sinnvoll ist. Das macht die Sache so schwierig.« Berlin setze sich deshalb auf Bundesebene beispielsweise auch dafür ein, dass vor Spielplätzen leichter eine reduzierte Geschwindigkeit umgesetzt werden könne, sagte Haegele.

Antje Kapek, verkehrspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, erinnerte daraufhin an den autogerechten Umbau der Städte. Früher hätten Kinder auf der Straße spielen können. Erst in den 1960er Jahren seien vermehrt Spielplätze als eingezäunte Bereiche eingerichtet worden, damit die Straße für Autos frei wird. »Wir sollten die Prioritäten umkehren«, sagte Kapek.

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