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»Wir wollen selbst verhandeln«

Organisationen der Herero und Nama bereiten eine Klage gegen die namibische Regierung vor. Sie wollen neue Verhandlungen mit Deutschland über Reparationen für den Genozid, den deutsche Truppen in der Kolonialzeit verübt haben

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 9 Min.
Sima Luipert in einem traditionellen Nama-Kleid. Sie kämpft für die Selbstrepräsentation der Nama.
Sima Luipert in einem traditionellen Nama-Kleid. Sie kämpft für die Selbstrepräsentation der Nama.

Sima Luipert sitzt im Zug und nimmt sich eine Pause für den Kopf. Gerade will sie einmal keine Fragen beantworten. Wenn die Zeit gekommen ist, klingt die 53-Jährige kämpferisch und pointiert. Luipert berät die Nama Traditional Leaders Association (Vereinigung der Traditionellen Führer der Nama, NTLA) in Bezug auf den Genozid, den die Deutschen 1904 bis 1908 an den Nama und Ovaherero im heutigen Namibia begangen haben. Ihrer Überzeugung nach ist die im vergangenen Jahr abgeschlossene Gemeinsame Erklärung der deutschen und der namibischen Regierung mangelhaft: »Wir wollen über unsere Belange selbst verhandeln«, sagt sie im Gespräch mit »nd«, als wir an diesem verhältnismäßig warmen Novembertag endlich in einem Café in Berlin angekommen sind.

Die Gemeinsame Erklärung sieht vor, dass Deutschland über einen Zeitraum von 30 Jahren 1,1 Milliarden Euro an Namibia zahlt. Das entspricht in etwa der Höhe der bislang gezahlten »Entwicklungshilfe« und ist rechtlich nicht bindend. Außerdem will Deutschland sich öffentlich entschuldigen und den Völkermord »aus heutiger Perspektive« anerkennen.

Luipert hat damit aus vielerlei Hinsicht ein Problem. Ihre Organisation bereitet gerade zusammen mit den Ovaherero Traditional Authorities (Traditionelle Autoritäten der Herero, OTA) und Bernadus Swartbooi, dem Parteivorsitzenden des Landless People Movement (Landlosenbewegung) eine Klage gegen die namibische Regierung vor. Der Windhuker Anwalt Patrick Kauta ist selbst Herero und vertritt die drei Organisationen. Im September hat er einen Brief an den Generalstaatsanwalt von Namibia geschrieben, der »nd« vorliegt. Darin heißt es, die Gemeinsame Erklärung in ihrer jetzigen Form sei »nicht im Einklang mit der Verfassung, sie verletzt die Menschenrechte und das Völkergewohnheitsrecht«. In Namibia ist der Generalstaatsanwalt verantwortlich für die Wahrung und den Schutz der Verfassung.

Von 1884 bis 1918 beanspruchte Deutschland das heutige Namibia als Kolonie. Im sogenannten Deutsch-Südwestafrika raubten die Deutschen Teilen der einheimischen Bevölkerung Land und Vieh. Zwischen 1904 und 1908 verübte Deutschland einen Völkermord an den Ovaherero und Nama. Die Menschen wurden zusammengetrieben und vergewaltigt, versklavt, ermordet oder in Konzentrationslager gebracht, wo viele an Hunger, Kälte und Zwangsarbeit starben. Zugleich förderte der Kolonialstaat – anders als in anderen deutschen Kolonien – die Ansiedlung von weißen Deutschen. Diese koloniale Landnahme wirkt bis heute fort: Rund 70 Prozent des privaten Landes in Namibia gehören einer Minderheit: den Nachfahren weißer Europäer*innen. Viele der Nachfahren der Überlebenden des Genozids und der Kolonialverbrechen leben in Armut. Für viele dieser Menschen ist die im vergangenen Jahr von Namibia und Deutschland veröffentlichte Gemeinsame Erklärung nicht akzeptabel.

Entschädigungen statt Entwicklungshilfe

Beim Besuch von Vertreter*innen von OTA, NTLA und Landless People Movement in Berlin sind nur wenige deutsche Poliker*innen bereit, mit ihnen zu sprechen: Jamila Schäfer (Grüne), die in ihrer Fraktion für das Südliche Afrika zuständig ist, will sich künftig in einer Gruppe von Grünen-Abgeordneten für »Dekolonisierung und Dialog über das Abkommen hinaus« einsetzen, erzählt sie im Gespräch mit »nd«. Sevim Dağdelen (Linke) hat Mitte November in Namibia auch mit Regierungspolitiker*innen gesprochen. »Seitens der namibischen Regierung und Gesellschaft herrscht Einigkeit und Klarheit, dass die Erklärung in dieser Form nicht das Ende der Verhandlungen sein kann«, sagt sie.

Auf Nachfragen der Abgeordneten hatte die Bundesregierung Anfang November erklärt, man halte an der Gemeinsamen Erklärung fest. Allein offene Fragen der Umsetzung sollten nachverhandelt und in einem Nachtrag festgehalten werden. »Dass sich die Bundesregierung weigert, die Verantwortung für die strukturellen Folgen der deutschen Kolonialherrschaft zu übernehmen sowie Verhandlungen über Reparationen zu führen, ist ein Skandal und zeugt von neokolonialer Arroganz«, so Dağdelen.

Von Reparationen ist in dem Papier keine Rede, Rechtsbegriffe wurden vermieden. Es ist vielmehr eine Absichtserklärung seitens der deutschen Regierung, in der finanzielle Ansprüche künftiger Generationen Namibias ausgeschlossen werden. Außerdem schließt die Zahlung Herero und Nama aus, die infolge des Völkermords in der Diaspora leben, in Botswana, Angola oder den USA. Als im September 2021 im namibischen Parlament über das Papier gestritten wurde, kletterten Demonstrant*innen über den Zaun vor dem Gebäude und stürmten das Gelände. Szenen, mit denen die deutsche Regierung wohl nicht gerechnet hatte. Die Gemeinsame Erklärung wurde im namibischen Parlament nicht ratifiziert. Die offizielle Unterzeichnung und der Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für eine öffentliche Entschuldigung stehen bis heute aus.

Für Steinmeiers Bitte um Vergebung hatte der inzwischen verstorbene Herero-Chief Vikuii Reinhard Rukoro – Vertreter einer der Gruppen, bei denen sich das Staatsoberhaupt entschuldigen müsste – Proteste angekündigt. Er war einer der schärfsten Kritiker des Abkommens. Wie andere befürchtete er, dass die namibische Regierung das Geld aus dem Abkommen nicht zugunsten der Herero und Nama nutzen würde, sondern um sich selbst zu bereichern oder eigene Projekte zu finanzieren. »Wir wurden vom ersten Tag an von dem Prozess ausgeschlossen«, erklärt sein Nachfolger Mutjinde Katjiua. Der 54-Jährige ist seit März 2022 Paramount Chief der traditionellen Autoritäten der Ovaherero.

Katjiua ist ein sorgsam gekleideter Mann mit Hut und sanfter Stimme. Seinen Stock schmückt ein Löwe, der den Kampf der Betroffenen symbolisieren kann: »Der Löwe steht für den Zusammenhalt der Gemeinschaft.« Kein Mensch könne allein einen Löwen töten. Zuvor arbeitete Katjiua im Bereich Landmanagement als außerordentlicher Professor an der Universität für Wissenschaft und Technologie in Windhuk. Jetzt ist er in »Vollzeit mit dem Fall beschäftigt«. Nebenbei betreibt er Landwirtschaft im Kommunalgebiet der Omaheke-Region und exportiert Rindfleisch nach Europa. Auch er fordert Neuverhandlungen, in denen die Selbstvertretungen der Ovaherero und Nama als gleichberechtigte Partner der Bundesregierung anerkannt werden. »Uns ist der politische Weg über Verhandlungen versperrt, deshalb bleibt uns nur der Rechtsweg«, sagt Katjiua.

Der deutsche Unterhändler Ruprecht Polenz (CDU) entgegnete auf Kritik immer wieder, es seien Herero und Nama an den Verhandlungen beteiligt gewesen, und man könne nicht mit den Organisationen verhandeln, weil diese keine homogene Meinung hätten. Es heißt, Vertreter*innen von OTA und NTLA hätten auch mitverhandeln können. Man merkt, dass Luipert diesem Argument schon oft widersprochen hat: »Von uns wird erwartet, dass wir als Berater teilnehmen. Aber wir wollen eine Selbstvertretung. Diese Forderung wird als Ablehnung unsererseits interpretiert«, sagt sie energisch.

Dieser Punkt ist Bestandteil der möglichen Klage: »Der Ausschluss der Ovaherero und Nama als Verhandlungspartner widerspricht dem Völkerrecht«, sagt Anwalt Patrick Kauta bei einem Gespräch in Berlin. Laut Uno-Deklaration über die Rechte indigener Völker haben diese ein »Recht auf Selbstbestimmung, auf die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen in ihren Gebieten sowie auf Entschädigung für Ländereien, Territorien und Ressourcen, die ihnen ohne ihre freie Zustimmung weggenommen, besetzt oder beschädigt wurden«.

Die namibische Regierung verstoße mit den geheimen bilateralen Verhandlungen auch gegen eine Resolution des Parlaments von 2006, die vorsieht, dass Verhandlungen zwischen den betroffenen Communitys und Deutschland ermöglicht werden sollen, mit dem Ziel, »volle Entschädigung im Sinne des Völkerrechts« auszuhandeln. Dafür müsste Deutschland den Völkermord an den Ovaherero und Nama rechtlich anerkennen. In seinem Brief an die Staatsanwaltschaft forderte Kauta eine Zusicherung, dass das letzte Wort über die Gemeinsame Erklärung beim Parlament liegen werde. Anderenfalls erwäge man, sich an das Oberste Gericht zu wenden. Der Staatsanwalt wies die Vorwürfe in dem Schreiben brüsk zurück und drohte Kautas Klient*innen mit Strafzahlungen.

Sima Luiperts Aktivismus ist von der Ungerechtigkeit getrieben. Sie hat das Landless People Movement, die Landlosenbewegung, in Nambia mitgegründet, sich dann zurückgezogen, als aus der Bewegung 2016 eine Partei wurde. Sie lebt in der Hardap-Region im Süden des Landes; es ist die Region mit dem höchsten Anteil an Weißen. Bei den Kommunalwahlen 2020 erzielte das Landless People Movement hier die Mehrheit mit 45 Prozent der Stimmen. Während der Apartheid lebten die Weißen in den Vororten und an den Rändern der Stadt, die Einheimischen lebten in den Townships. Luipert lebt mit ihrem Mann und vier Kindern immer noch dort. »Aus freien Stücken, weil ich so mit meinen Leuten in Kontakt bleibe«, erklärt sie. Ob sie mit ihren Nachbar*innen über die Kolonialzeit und den Genozid spricht? »Sie brauchen nicht darüber zu reden, sie leben es jeden Tag«, sagt sie nur.

Damit spielt sie wohl auf das von Polenz immer wieder vorgetragene Argument an, man könne Entschädigungen nicht direkt an Ovaherero und Nama auszahlen, da es sich – anders als bei Reparationen für den Holocaust – nicht um direkte Opfer, sondern um die Generation der Urgroßenkel und Ururgroßenkel handele. Die Vertreter*innen der Organisationen sehen auch diese Generationen als Opfer: durch das intergenerationale Trauma, das ihnen vererbt wurde, und durch die ihnen geraubte wirtschaftliche Grundlage.

Gegen koloniale Muster

Bei unserem Treffen im Oktober schaut Patrick Kauta immer wieder auf sein Telefon. Gerade hat die namibische Regierung erklärt, man wolle Nachverhandlungen mit der Bundesregierung in Bezug auf die Höhe der Zahlungen. Ob ihn das von der Klage abbringen wird? »Das Gerichtsverfahren wird eingeleitet«, sagt er mit finsterem Blick. Er ist der Überzeugung, dass die Regierung ihn und seine Klient*innen mit diesem Schritt nur besänftigen will. »Sie sind total widersprüchlich: Auf der einen Seite behaupten sie, sie wollen nachverhandeln beziehungsweise eine Ergänzung zur bestehenden Erklärung aushandeln. Gleichzeitig sind sie schon dabei, die Gemeinsame Erklärung zu implementieren«, sagt er. Kauta ist entschlossen, die Erklärung zwischen Deutschland und Namibia vor Gericht zu kippen. »Ich habe mich gezwungen gesehen zu handeln, damit das Vermächtnis von Paramount Chief Kuaima Riruako und Paramount Chief Vekuii Rukoro nicht umsonst war«, sagt er dem »nd«. Beide Politiker haben sich vehement für den Kampf der Ovaherero und Nama eingesetzt.

Den Betroffenen geht es nicht primär um Geld. »Die Gemeinsame Erklärung ist rassistisch und leugnet den Genozid«, sagt Katjiua. Dort heißt es wörtlich: »Die Bundesregierung erkennt an, dass die in Phasen des Kolonialkrieges verübten abscheulichen Gräueltaten in Ereignissen gipfelten, die aus heutiger Perspektive als Völkermord bezeichnet würden.« Damit erkennt sie den Genozid politisch an, nicht aber juristisch, und will sich Ansprüchen auf Reparationen entziehen.

Die Völkerrechtsexpertin Karina Theurer berät Kauta auf diesem Gebiet. Sie erklärt: »Die Bundesregierung argumentiert, dass die Herero und Nama nach dem internationalen Kriegsrecht und humanitärem Völkerrecht keinen Schutz aus internationalen Verträgen bekommen konnten, weil sie zu den sogenannten unzivilisierten Völkern gehörten. Mit dieser Auslegung reproduziert sie den Rassismus, der den Kolonialismus erst ermöglichte.« Demnach wäre die Ermordung der Ovaherero und Nama keine Rechtsverletzung nach dem kolonialen europäischen Recht gewesen – und das wird hier angewendet. Aus Sicht der Anwält*innen verstößt die namibische Regierung mit dieser Formulierung gegen ihre verfassungsgemäßen Pflichten, gegen die Reproduktion von Rassismus und kolonialen Mustern vorzugehen.

Dass es nun ein Addendum geben soll, ist für Theurer nicht ausreichend: »Die Gemeinsame Erklärung ist rechtswidrig zustande gekommen. Aus diesem Grund muss neu verhandelt werden, diesmal unter Einhaltung der rechtlichen Mindeststandards«, sagt Theurer. Ein mögliches Verfahren würde den Abschluss der Gemeinsamen Erklärung und die Auszahlung finanzieller Mittel weiter aufschieben. Für Sima Luipert ist das dennoch die bessere Option: »Die Aushandlung eines solchen Prozesses braucht Zeit. Wir können keine Schnellschüsse zulassen, die unsere Rechte verletzen.«

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