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Die Ruhe nach dem Überfall
Zwei Monate nach den Angriffen Aserbaidschans sucht Armenien nach Alltag und Verbündeten
Tigran legt sofort los. Kaum ist man in sein Taxi eingestiegen, redet der Endfünfziger ohne Pause über den Krieg. Den sowjetischen Krieg in Afghanistan, den er als Soldat miterlebte, Russlands Krieg in der Ukraine und den andauernden Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. »Jerewan ist eine wunderbare Stadt und wir könnten hier so gut leben, wenn nur die Aserbaidschaner nicht wären«, rutscht es ihm irgendwann raus. Ein Satz, der die Stimmung vieler Menschen in der kleinen Republik widerspiegelt.
Der Südkaukasus ist ein Pulverfass. Seit beinahe 40 Jahren streiten Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach. Völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörend, leben dort überwiegend Armenier. Viele Gebiete, die Armenien im Krieg Anfang der 1990er eroberte, musste es nach dem Krieg vor zwei Jahren wieder abgeben. Fast 4000 armenische Soldaten fielen damals in den Kämpfen. Nach der Niederlage machten sich 90 000 Menschen aus der Republik Arzach, wie die Region in Armenien genannt wird, auf die Flucht. In Jerewan zieren Porträts von Gefallenen die Hauswände vieler Wohnblöcke aus Sowjetzeiten. Und an Fenstern und Balkonen hängt die Flagge der international nicht anerkannten Republik Arzach.
Im September zerbrach der brüchige Frieden. Fünf Minuten nach Mitternacht begann die aserbaidschanische Armee am 13. September ihre Angriffe, heißt es in einem Schreiben der armenischen Mission bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Zwei Tage lang beschossen die Truppen des Diktators Ilham Alijew die Grenzregionen Sjunik, Gegharkunik und Wajoz Dsor mit großkalibrigen Waffen, Artillerie, Raketenkomplexen und Drohnen. Nach armenischen Angaben kamen dabei über 200 Menschen ums Leben oder verschwanden, darunter vier Zivilisten. Knapp 300 Menschen wurden verletzt, 20 Soldaten gerieten in aserbaidschanische Kriegsgefangenschaft. 36 Orte und viel Infrastruktur wurden in Mitleidenschaft gezogen. Laut Jerewan hat Aserbaidschans Armee über 50 Quadratkilometer armenisches Territorium besetzt und ist an manchen Stellen bis zu 7,5 Kilometer ins Land eingedrungen. Seitdem berichtet das armenische Verteidigungsministerium fast täglich von Schüssen. Oft enden die Mitteilungen mit dem knappen Satz: »Die Situation an der Grenze ist relativ stabil«.
Eine der Städte, die besonders von den aserbaidschanischen Angriffen betroffen waren, ist der kleine Kurort Dschermuk, der auf 2100 Metern Höhe vor allem Menschen aus Russland und den arabischen Staaten anlockt. Hier waren Bakus Truppen am weitesten auf armenisches Gebiet vorgedrungen. Drei Stunden dauert die Fahrt mit dem Auto aus der Hauptstadt Jerewan, tief hinein in die imposante Bergwelt des kleinen Kaukasus. Unterwegs begegnet man immer wieder Lkw der russischen Friedenstruppen und der armenischen Armee. Je näher man der Grenze kommt, desto mehr Olivgrün zeigt sich auf den Straßen. Kurz vor Dschermuk wischt ein Artilleriegeschütz am Straßenrand die letzten Zweifel beiseite, dass hier Krisenregion ist.
Ein Kurort wird zum Militärlager
Dschermuk selbst wirkt zwei Monate nach dem Angriff wie ausgestorben. Der Ort scheint bessere Tage erlebt zu haben. Bei vielen Gebäuden kann man nicht sagen, ob Aserbaidschans Armee oder schlicht der Verfall schuld am traurigen Erscheinungsbild sind. Immerhin wird die Hauptstraße des 8000-Einwohner-Städtchens asphaltiert. Darauf fahren ab und zu alte Lada-Taxis hin und her. Sonst scheint nur die Armee die Straße zu nutzen. Immer wieder rauschen die LKW zum Ortsausgang, dort, wo der Kommandeur sein Lager eingerichtet hat. Die Soldaten sind, wenig verwunderlich, kaum gesprächsbereit, solange ihr Kommandeur nicht sein Okay gibt. Zu ihm vorgelassen wird man aber nicht. Ein Wachposten redet dann doch. Während mehrere voll beladene LKW Richtung Grenze an ihm vorbeifahren, regt er sich auf, dass die Aserbaidschaner seit September mehrere Stellungen eingenommen haben und wie stolz er ist, die Menschen hier gegen den Aggressor verteidigen zu können. Angst habe er nicht, sagt er noch und zeigt auf die schneebedeckten Berge, in denen sich die Aserbaidschaner verschanzt haben. Man könne sich gut verteidigen. Auch ein Bauarbeiter, der gerade an der Hauptstraße arbeitet, lächelt bei der Frage nach der Angst nur. »Das geht alles vorbei«, sagt er. Im September war er aber nicht im Ort.
Anders als Kristina Iwanjan. Vor zwölf Jahren hat sich die 38-Jährige ein Haus in Dschermuk gekauft und ihre Heimatstadt Jerewan verlassen, um hier in einem Sanatorium zu arbeiten. »Für mich war das nicht unbedingt schlimm«, sagt sie. Schließlich habe sie das alles bereits in Arzach gesehen, wo sie 2020 armenische Soldaten als Freiwillige mit Nahrung und Kleidung versorgt hatte. Auch dem Krieg vor zwei Jahren sind mehrere solcher »Scharmützel« vorausgegangen, weshalb offizielle Stellen nicht müde werden, vor einer möglichen Eskalation zu warnen.
Für die Menschen im Ort allerdings sei das anstrengend gewesen, schließlich hatten die wenigsten bisher solch eine Bombardierung erlebt. Zwei Tage lang wurde Dschermuk schwer beschossen, danach wurden die Beschüsse seltener, halten aber bis heute an. Im September hatten die Menschen Angst, »glücklicherweise haben sie sich zusammengerauft und durchgehalten«, sagt Iwanjan. Als die aserbaidschanischen Bomben fielen, waren die Hotels und Sanatorien in Dschermuk voll. Die Evakuierung musste schnell gehen, viele Touristen mussten ihr Gepäck zurücklassen. Von überall haben die Betreiber damals Autos organisiert und die Touristen ins 170 Kilometer entfernte Jerewan gebracht. Es sei unglaublich gewesen, wie man die Menschen aus dem Ort gebracht habe. Die Einheimischen seien aber überwiegend in Dschermuk geblieben. Und diejenigen, die gefahren sind, kamen relativ schnell wieder, erzählt Iwanjan. Nach offiziellen Angaben sind zwischen 15 und 20 Prozent der Menschen, die im September evakuiert wurden, bis heute nicht zurückgekehrt. »Ist doch klar, wenn du keine Arbeit hast und deine Familie ernähren musst, dann bleibst du an einem anderen Ort«, meint Iwanjan.
Schwerer wirtschaftlicher Schlag
Für Dschermuk ist der aserbaidschanische Angriff auch ein finanzielles Fiasko. Erst zwei Wochen später öffneten am 1. November die ersten Hotels und Sanatorien ihre Türen wieder für Gäste. Iwanjans Haus machte sogar erst am 10. Oktober wieder auf. Anfang November erklärte der Gouverneur der Provinz Wajoz Dsor, Ararat Grigorjan, dass die Hotels wieder zu 40 Prozent gefüllt seien. »Das normale Leben kehrt allmählich nach Dschermuk zurück. Die Touristenströme sind noch nicht wieder wie zuvor, aber wir haben hart gearbeitet und im Ort gibt es jetzt Erholungssuchende«, sagte Grigorjan zu Journalisten. Kristina Iwanjan ist trotzdem unzufrieden. »Das tötet unser Geschäft! Eigentlich sollte ich jetzt keine Zeit haben, hier zu sitzen und mit Ihnen zu reden«, sagt sie. Normalerweise sollte ihr Sanatorium ausgebucht sein, schließlich ist gerade goldener Herbst und damit absolute Hochsaison.
Auf ihre Gäste ist Iwanjan aber stolz. Schon bei der Evakuierung haben einige gesagt, dass sie in Jerewan darauf warten, schnell wieder zurückzukommen. »Als wir in den sozialen Medien geschrieben haben, dass wir wieder aufmachen, haben uns die Menschen angerufen und gesagt, dass sie kommen, nur um uns zu unterstützen«, sagte Iwanjan. Eine solche Unterstützung gibt es wohl sonst kaum im Business. »Aber bei uns sind die Menschen so«. Auch aus Russland kommen seitdem viele Diaspora-Armenier, obwohl es »da ja auch nicht gerade rosig ist«. »Das ist viel wert, glauben Sie mir«, meint Iwanjan. Zudem gab es für die Mitarbeiter der Hotels und Sanatorien seit September Schulungen, in denen ihnen beigebracht wurde, was sie im Fall eines erneuten Beschusses zu tun haben und wo sie sich in Sicherheit bringen sollen.
Kein Vertrauen in das Ausland
Unterstützung plant auch die armenische Regierung, die momentan ein Hilfsprogramm entwickelt. Da müsse man schauen, was da wirklich kommt, aber irgendwas wird passieren, kommentiert Iwanjan die Bemühungen aus der Hauptstadt. Auf ausländische Hilfe hofft in Dschermuk derweil kaum jemand. Nach dem aserbaidschanischen Angriff waren Delegationen der Vereinten Nationen, der OSZE und aus der Schweiz vor Ort. Auch Anfang November stehen vor dem besten Hotel der Stadt SUVs mit Diplomatenkennzeichnen. Die seien von der EU, sagt Iwanjan und schiebt hinterher, dass sie nicht glaubt, dass sich die großen Organisationen aus dem Westen wirklich für Armenien interessieren. »Betrachten wir es mal so: Sie kommen seit 30 Jahren nach Armenien und bisher sehe ich keinen Nutzen. Sie drücken die ganze Zeit ihr Mitgefühl aus, rufen die Konfliktparteien immer wieder zum Konsens auf und dass alle freundschaftlich und glücklich leben. Zu all dem rufen sie auf und wünschen alles Gute. Konkrete Schritte aber unternimmt niemand, weil das nicht zu ihren Zielen gehört. Warum sollten sie sich zu viele Gedanken machen?« »Eindeutig« beschützen könne die Armenier nur die Armee, ist Iwanjan überzeugt und glaubt, dass sie gut genug ausgerüstet ist für die Verteidigung des Landes.
Trotz ihrer Gelassenheit wegen des Angriffs im September bezeichnet Iwanjan Armeniens Situation als schlimm und spricht von einem kleinen Volk »am Rande des Verschwindens«, worüber kaum geredet wird. Alijew, so glaubt sie, leidet an der Manie, sein Land auf Kosten anderer zu vergrößern und hat für seine Großmachtphantasien Armenien ausgewählt. An eine friedliche Zukunft glaubt sie nicht. Dschermuk zu verlassen kommt für sie dennoch nicht in Frage. »Wenn wir diejenigen sind, die die Tür schließen müssen, dann bleiben wir«, beschreibt Iwanjan die Stimmung unter den Einwohnern des Kurorts.
Auch die armenische Regierung gibt sich kämpferisch. Seit September ist Premierminister Nikol Paschinjan unterwegs, um internationale Unterstützung zu bekommen, forderte eine Beobachtermission an der Grenze und die Verurteilung der aserbaidschanischen Aggression. Bisher vergebens. Besonders enttäuscht ist man in Armenien von der Schutzmacht Russland. Schon 2020 verstand kaum jemand, warum Russland nicht im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) eingriff. Beim OVKS-Gipfel Ende November in Jerewan gingen die Menschen auf die Straße, um Russlands Präsidenten an sein Schutzversprechen zu erinnern. »Putin, hol unsere Jungs zurück«, stand auf vielen Plakaten.
Der Gipfel selbst wurde zum Eklat und könnte nach Einschätzung einiger Beobachter das Ende der OVKS bedeuten. Weil sich die Mitgliedsstaaten nicht zu einer politischen Verurteilung des Angriffes im September durchringen konnten, verweigerte Paschinjan, der im eigenen Land heftig kritisiert wird, seine Unterschrift unter der Abschlusserklärung. Jerewan befürchtet, dass sich die OVKS-Mitglieder nicht an ihre Beistandspflicht gebunden fühlen und Baku damit grünes Licht für weitere Aggressionen bekommt. Putin selbst zeigte auf dem Gipfel sein Missfallen über Paschinjans Entscheidung, äußerte sich aber nicht. Wenig später ließ er seinen Sprecher Dmitrij Peskow verkünden, dass Paschninjan dazu neige, den Gipfel als »Fiasko« zu betrachten und gestand ein, dass die Einschätzung nicht ganz falsch ist.
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