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Im Sandkasten mit Sarrazin

In seinem neuen Buch versucht sich Thilo Sarrazin an Ideologiekritik

  • Michael Bittner
  • Lesedauer: 5 Min.

Ideologie ist wie Mundgeruch – immer das, was nur die anderen haben. Das Bonmot des britischen Literaturwissenschaftlers Terry Eagleton ist inzwischen zum geflügelten Wort geworden. Es beschreibt ein allgemeines Elend im gegenwärtigen Umgang mit dem Wort »Ideologie«. Wurde es früher noch in sinnvoller Weise verwendet als Bezeichnung für das notwendig verkehrte Denken einer verkehrten Gesellschaft, bei Marx oder bei Karl Mannheim als Synonym für das »Rechtfertigungsdenken«, das Intellektuelle herrschenden Regimen liefern, verwerfen heutzutage viele nur noch eben die politischen Anschauungen als »Ideologie«, die der Gegner hat. Besonders in der Rechten ist solcher besinnungslose Wortgebrauch in Mode. Es verwundert nicht, dass Thilo Sarrazin sich mit seinem neuesten Buch »Die Vernunft und ihre Feinde« am Feldzug gegen das vermeintlich »ideologische Denken« beteiligt.

Immerhin bemüht sich Sarrazin in den ersten Kapiteln, einen Unterschied zwischen dem vernünftigen und dem ideologischen Denken zu definieren. Dabei greift er auf seinen Hausheiligen Karl Popper und dessen »kritischen Rationalismus« zurück: Vernünftig ist danach ein Denken, das Theorien zur Erklärung der Wirklichkeit entwirft, die logisch konsistent und empirisch falsifizierbar sind. Ideologie hingegen entsteht aus Sicht Sarrazins aus einem »Wunschdenken«, das Werturteile und Tatsachenaussagen vermischt, deswegen die Gesetze der Logik missachtet und die Wahrnehmung der Wirklichkeit verzerrt. Diese Definition ist gewiss nicht verkehrt, allerdings auch so allgemein, dass »Ideologie« zum bloßen Synonym für falsches Denken und damit zum nutzlosen Begriff wird. Und im Laufe des Buches stellt sich heraus, dass alles noch viel einfacher ist: Vernünftig ist das, was Dr. Thilo Sarrazin sagt.

Tatsächlich ist es nicht besonders schwer, dem Autor jene Denkfehler nachzuweisen, die er anderen vorwirft. Sarrazin tadelt Marx und seine Nachfolger für ihren historischen Determinismus: »Diese Fülle völlig heterogener Entwicklungen und die Einwirkung der unterschiedlichsten Zufälle macht [sic] die Aufstellung historischer Entwicklungsgesetze rein logisch unmöglich. Und schon gar nicht könnten sie eine Grundlage für langfristige Prognosen und Prophezeiungen zur Entwicklung der Menschheit, einzelner Kontinente, Staaten oder Gesellschaften bilden.« Das sagt ein Mann, der in seinem Bestseller »Deutschland schafft sich ab« selbst nach dem Vorbild Oswald Spenglers als Untergangsprophet auftrat.

Auch im neuen Buch kann Sarrazin der Versuchung nicht widerstehen, ein neues Geschichtsgesetz in Stein zu meißeln: »Wenn einer kleinen Minderheit, die sehr aktivistisch ist, eine Sache sehr wichtig ist, die der großen Mehrheit nicht so wichtig ist, dann setzt sich die kleine Minderheit irgendwann mit ihrem Anliegen ganz oder teilweise durch. So bildet sich in der Gesellschaft die bedauerliche Tendenz heraus, dass am Ende immer die Radikalen gewinnen.« Immer!

Manche Thesen Sarrazins, etwa jene, dass »heute Themen wie Islam und Migration kaum noch öffentlich diskutiert werden können«, ließen sich ohne Mühe empirisch falsifizieren. Auch die folgende Beschreibung der politischen Lage hat mit der Realität nichts zu tun, stammt eher aus rechten Alb- und linken Wunschträumen: »In der gesellschaftlichen Wirklichkeit der westlichen Länder ist die tatsächliche Politik weit überwiegend von linken Denkmustern geprägt.« Die Grenze zum Wahnhaften überschreitet Sarrazin auch gelegentlich: »Die Ausbreitung des Islam im westlichen Abendland trägt zur Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft bei, und insofern sind die zahlreichen Kinderwagen und Kopftücher muslimischer Migranten, wo immer sie sich in westlichen Städten ausbreiten, vielen Linken als ein Zeichen willkommen, dass das bürgerliche westliche Abendland dem Untergang geweiht ist.«

Auch in Sachen Logik knirscht es mehr als einmal. So kann es nach Sarrazin demokratischen Sozialismus nicht geben. Der Beweis: »Wo man den Bürgern die Freiheit nimmt, sich Beruf und Gewerbe selbst zu wählen, Firmen zu gründen und an freien Märkten Produkte und Leistungen auszutauschen, dort hat es noch nie Meinungsfreiheit und Demokratie gegeben.« Was bisher noch nie existierte, kann prinzipiell nicht existieren – ein Induktionsschluss, den der Autor ein paar Seiten zuvor noch selbst für ungültig erklärt hatte.

Gerne greift Sarrazin auch zum Mittel falscher Gleichsetzung: »Das islamistische Frauenbild und die Genderideologie sind beide gleichermaßen absurd.« Unmengen von Strohmännern tummeln sich im Buch: Die absonderlichsten Sekten werden als repräsentativ für »die Linken« ausgegeben. Für Widersprüche im eigenen Weltbild ist der Autor eher blind: So fordert er zuerst dazu auf, die eigene Identität zu »reflektieren«, eine Seite weiter dann, sie als »Selbstverständlichkeit« anzunehmen.

Sarrazin kritisiert – nicht zu Unrecht – den Kulturrelativismus der Multikulturalisten, liebäugelt aber selbst mit dem ebenso relativistischen »Ethnopluralismus«. Seine Lieblingsthese, Armut sei Folge von vererbter minderer Intelligenz, belegt Sarrazin einmal mehr mit Ergebnissen von IQ-Tests – als könnte die Korrelation nicht auch umgekehrt sein: Menschen schneiden wegen ihrer Armut mangels Selbstbewusstsein, Übung und Konzentration bei solchen Tests schlechter ab als Privilegierte. Seine Forderung, die »Voraussetzungen« des eigenen Denkens auszusprechen, befolgt Sarrazin selbst nicht: Nirgends erklärt er offen, dass Macht und Wohlstand der Nation sein politischer Imperativ sind.

Es stimmt misstrauisch, dass ein Mann, der so entschieden das Prinzip der »Falsifikation« vertritt, selbst so gut wie nie Fehler einräumt. In einem autobiografischen Kapitel, dem merkwürdigsten Teil des Buches, erfahren wir, dass Thilo schon als junger Mensch stets richtig lag und alles durchschaute. Als Wissenschaftler, Manager und Politiker fuhr er sodann einen »Erfolg« nach dem anderen ein und wurde überall »hochgeehrt«.

Die Peinlichkeit solchen Eigenlobs erklärt sich wohl aus einem ungestillten Liebesbedürfnis: Der Sohn aus einer lieblosen bürgerlichen Ehe, der wie schon sein Vater ein musisches Talent unterdrückte und sich durch Selbstzwang eine Spitzenkarriere erarbeitete, würde gern allgemein bewundert werden, befremdet aber stattdessen nur durch Kälte und Härte. Nicht einmal bei seinen rechten Fans wird sein neues Buch auf Begeisterung stoßen, denn – man muss es fairerweise anerkennen – Sarrazin kritisiert unvernünftiges Denken auch bei religiösen Fanatikern, Trump- und Putin-Fans, Faschisten, Impfgegnern und Leugnern des menschengemachten Klimawandels.

Gegen den Vorwurf, er sei in seiner Ideologiekritik selbst ein Ideologe, hat sich Sarrazin vorsichtshalber im Buch schon immunisiert: »Ideologen machen aber auch gern ihrerseits einem für ihre Ideologie unwillkommenen wissenschaftlichen Ergebnis den Vorwurf, ideologisch motiviert zu sein.« Damit ist der Diskurs auf Kindergartenniveau angekommen: »Ideologe! – Selber Ideologe!« Eine Schlussfolgerung immerhin, die wir Sarrazin verdanken: Dieses Wort ist unbrauchbar geworden.

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