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Kontakt zur Außenwelt

Japan hat seine strengen Coronaregeln gelockert. Aber nur langsam normalisiert sich das Leben

  • Felix Lill, Tokio
  • Lesedauer: 7 Min.

Es ist ein sonniger Tag, als ich nach einem Interviewtermin ein Café betrete, um mir schnell ein paar Notizen zu machen. Seit Jahren komme ich immer wieder in dieses geräumige Geschäft im westlichen Zentrum Tokios, denn es ist so praktisch: Aufgeräumte Tischinseln bieten Steckdosen, angenehm gebündeltes Licht und schnelles Internet. Studentinnen kommen zum Lernen her, Freiberufler zum Arbeiten. Einige Gesichter kenne ich schon.

Als ich meinen Café Mocha bei der Theke abgeholt habe, suche ich mir einen Platz an einem Sechsertisch. Links und rechts an der Außenseite ist je einer frei, ich nehme den linken. Alles ist wie immer. Und doch ganz anders. Denn kurz nachdem ich mich gesetzt habe, erhebt sich meine Tischnachbarin, die wie ich eine Maske trägt, von ihrem Platz. Sie geht zur Toilette, setzt sich wenige Minuten später auf den ebenso freien Platz zu ihrer Rechten. Zwischen uns ist jetzt ein Platz Abstand.

Man müsste sich bei einer solchen Situation nichts weiter denken – wenn sie nicht so regelmäßig vorkäme. Wie am heutigen Tag habe ich immer mal wieder plötzlich viel freien Platz um mich herum, sobald ich mich irgendwo setze. Ich verhalte mich ruhig, behalte meine Maske über der Nase, solange ich nichts trinke. Ich breite meine Sachen auch nicht auffallend großspurig aus, wie man es Ausländern in Japan oft nachsagt. Alles, was an mir auffällt, dürften meine hellblonden Haare und mein westlich aussehendes Gesicht sein. Ist dies vielleicht der Grund für das Wegrücken von mir?

Vor einem guten Monat hat Japan seine Außengrenzen wieder für Touristen geöffnet. Fast drei Jahre lang hatte das ostasiatische Land praktisch jeden Kontakt mit der Außenwelt auf ein Minimum reduziert, um inmitten der Pandemie die Inlandsbevölkerung vor allzu hohen Infektionszahlen zu bewahren. Mitte Oktober folgte Japan dann als letzter G7-Staat dem internationalen Trend und ließ diverse Einreisebestimmungen fallen. Seit einem Monat ist wieder alles beim Alten. Zumindest auf den ersten Blick.

Geht man heute durch die Straßen von Tokio, sind ausländisch aussehende Gesichter keine Besonderheit mehr. Man findet sie in den kleinen Convenience Stores an beinahe jeder Straßenecke, wenn sie zwischen Museumsbesuchen rasch einen Onigiri essen. Oder auf der riesigen Fußgängerkreuzung in Shibuya im Westen Tokios, wenn sie ein Szeneviertel besuchen. Oder im Ueno Park im Norden, wenn sie unter freiem Himmel die Maske abnehmen, mal kurz durchatmen.

Ökonomisch gesehen kann jetzt ganz Japan aufatmen. Schließlich sind die Touristen endlich zurück. Jahrelang war im ostasiatischen Land, dessen Bevölkerung wegen niedriger Geburtenraten, einer hohen Lebenserwartung und geringer Migration so schnell altert und schrumpft wie in kaum einem anderen Land, der Tourismus der Boomsektor überhaupt. Vor knapp zehn Jahren, als Tokio das Austragungsrecht für die 2020 geplanten Olympischen Sommerspiele erhielt, hatte die Regierung das Ziel ausgegeben, bis 2020 40 Millionen Touristen pro Jahr ins Land zu ziehen.

Was einst utopisch klang, wurde bald realistisch: Trotz des hohen Preisniveaus vermarktete sich Japan weltweit als einzigartige, klimatisch und geografisch vielfältige sowie ästhetisch und kulinarisch begeisternde Nation. Gab es im Jahr 2011 noch 6,2 Millionen Einreisende aus dem Ausland, so waren es 2019 bereits 31,9 Millionen – eine Verfünffachung binnen acht Jahren. Nicht nur klassische Tourismushochburgen wie Kyoto und Tokio erlebten einen Hotelboom, sondern auch entlegenere Orte mit Heißquellbädern, beliebten Stränden oder Wanderrouten.

Die ausgegebene 40-Millionen-Marke für das Jahr 2020 war in Reichweite. Dann kam aber die Pandemie. Und mit ihr verfiel Japan in einen Reflex, der im Land immer wieder greift, wenn es Probleme größeren Ausmaßes gibt: Man igelt sich ein, schottet sich ab. Kurz nachdem im chinesischen Wuhan das neuartige Coronavirus ausgebrochen war, erreichte es auch andere Teile der Welt, darunter Japan. Rasch schloss die Regierung die Staatsgrenzen.

Tatsächlich ist die Corona-Strategie des ostasiatischen Landes effektiv gewesen, weil es relativ wenige Infektions- und Todesfälle gegeben hat, wenngleich auch wenig getestet worden ist. Zugleich wurde mit der radikalen Grenzschließung der Fremdenverkehr, der bis dahin als Wachstumsmotor für die kommenden Jahre gefördert worden war, jäh abgewürgt. Die Olympischen Spiele, die den Höhepunkt des Tourismusbooms darstellen sollten, fanden ein Jahr später unter Ausschluss der Welt statt. Die Stadien und Hotels, die hierfür gebaut worden waren, blieben leer.

Die Kosten der Grenzschließungen sind immens gewesen. Eine Analyse von Noriko Yagasaki, Professorin für Globale Sozialwissenschaften an der Christlichen Frauenuniversität Tokio und Expertin für Tourismus, hat die entgangenen Erlöse auf 22 Billionen Yen (rund 152 Milliarden Euro) hochgerechnet – rund drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Neben der Gastronomiebranche hat auch Yagasaki immer wieder eine Lockerung der Einreisebestimmungen gefordert.

Aber jetzt, da die Hürden endlich gefallen sind: Ist Japan überhaupt bereit für den Ansturm aus dem Ausland? Von den vielen Touristen, die die Hotels schon jetzt wieder bis aufs letzte Zimmer füllen, ist viel Begeisterung zu vernehmen. Doch immer wieder hört man auch von Anekdoten, in denen sich Heimische schnell einen Schritt distanzieren, wenn sie eine fremd aussehende Person sehen. Cafés fordern extra auf Englisch dazu auf, die Gäste – die für die Einreise noch immer dreifach geimpft oder negativ getestet sein müssen – mögen die Maske aufbehalten.

Die Impfquote in Japan beträgt mittlerweile 83 Prozent. Wer sich vor Covid-19 schützen wollte, konnte dies weitgehend tun. Dennoch ist die japanische Gesellschaft skeptisch gegenüber den jüngsten Lockerungen. Eine Umfrage der führenden Tageszeitung »Mainichi Shimbun« ergab Ende Oktober, dass nur knapp die Hälfte der Menschen die Öffnung der Grenzen befürwortet. Vor allem ältere Menschen, die in Japan einen hohen Anteil der Bevölkerung ausmachen, halten den Schritt für verfrüht.

Fragt man Koichi Nakano zu solchen Ergebnissen, muss er milde lächeln. »Corona hat in Japan schnell als Bedrohung von außen gegolten«, sagt der Politikprofessor der angesehenen Sophia Universität in seinem Büro im Zentrum Tokios. »Auch die Regierung hat Klischees bedient, nach denen Ausländer Gefahren darstellen, weil sie das Virus ins Land bringen.« Eine ohnehin latente Skepsis gegenüber Fremden sei auf diese Weise bekräftigt worden. »Auch an der Universität machen wir uns jetzt Sorgen, dass Japan durch seine langen Grenzschließungen seinen guten Ruf verspielt hat.«

Kritiker der Regierung, zu denen auch Koichi Nakano zählt, haben die Abschottungen in der Pandemie wiederholt mit der Edo-Ära verglichen: Vom frühen 17. bis zum späten 19. Jahrhundert verbot Japans Regierung fast jeden Kontakt mit der Außenwelt. Konservative loben die Phase oft als Blütezeit national-japanischer Kultur, Progressive eher als eine Art von Stillstand, da nur ein sehr spärlicher und streng kontrollierter Austausch mit der Welt stattfand. Als die Edo-Ära endete, begann in Japan ein intensiver sozialer Umbruch mit Modernisierungen diverser Lebensbereiche.

Könnte das Ende der Corona-Abschottung für ähnlichen frischen Wind sorgen, den eigentlich ja schon die Olympischen Spiele bringen sollte? Koichi Nakano ist skeptisch: »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, wenn es um Offenheit geht. Es ist schade, dass auch Olympia den versprochenen Austausch nicht gebracht hat.« Tatsächlich ist Japans Gesellschaft, die sich bis dahin in einem jahrelangen sozialen Öffnungsprozess befunden hatte, mit der Pandemie eher ängstlicher und verschlossener geworden.

»Wir sind nun mal eine Inselnation«, sagt mir ein japanischer Freund, als ich ihm von den sich wiederholenden Begegnungen im Café und anderswo erzählt habe, wenn Menschen auf Distanz zu mir gehen. »Die meisten Leute hier waren noch nie im Ausland.« Und die meisten tragen auch heute noch draußen eine Maske, obwohl die Regierung sie schon nicht mehr dazu auffordert. Unter freiem Himmel, wenn sich niemand in der Nähe befindet, ist Maskentragen längst Etikette geworden. Und zwar eine, die Touristen oft erst bemerken, wenn sie ein paar Mal ins Fettnäpfchen getreten sind.

An einem Nachmittag Mitte November, in einer Wohngegend im nordöstlichen Zentrum Tokios, ist die Straße fast menschenleer, da kommt ein Auto leise herangerollt. Der weiße Wagen trägt die Aufschrift des Bezirks Sumida, fährt mit Blaulicht, auf dem Dach ist ein Lautsprecher installiert: »Im Winter wird es wieder mehr Infektionsfälle geben. Bitte kooperieren Sie und setzen eine Maske auf, wenn Sie mit Menschen sprechen oder sich in deren Nähe befinden. Vielen Dank!«

Die Stimme spricht nur auf Japanisch. Die anderen, die das nicht verstehen, werden hier noch nicht wieder angesprochen.

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