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Neuköllner Nazi bleibt ungestraft
Das Amtsgericht hat den in der Terrorserie angeklagten Tilo P. freigesprochen
Im Prozess gegen die Neuköllner Neonazis Tilo P. und Sebastian T. ist das Amtsgericht Tiergarten der Forderung der Generalstaatsanwaltschaft nach dreieinhalb Jahren Haft für Tilo P. nicht nachgekommen. P. wurde am späten Donnerstagnachmittag für den Vorwurf der Brandstiftung freigesprochen und lediglich wegen Sachbeschädigung für 4500 Euro oder 150 Tagessätze verurteilt. Dabei hatten die Staatsanwältinnen den 39-Jährigen in ihrem Abschlussplädoyer in allen Anklagepunkten für schuldig befunden: elf Sachbeschädigungen, in drei Fällen mit der Verbreitung verfassungsfeindlicher Inhalte, dazu Beihilfe zu zwei Brandstiftungen. Sebastian T.s Verfahren wurde abgetrennt. Der 36-Jährige muss sich zusätzlich wegen Sozialbetrugs und Drohgraffiti verantworten, sein Prozess soll im Januar weitergehen.
Es gebe zwar keine konkreten Beweise, dass P. tatsächlich in der Nacht vom 31. Januar 2018 bei den beiden Brandstiftungen Schmiere gestanden habe, so die Staatsanwaltschaft. Doch die »überzufällige Häufung von Zusammenhängen« von 2016 bis heute spreche dafür. So bezieht sich die Staatsanwaltschaft auf die umfassenden Ausspähungen der Betroffenen, die P. und T. gemeinsam betrieben. Schon 2016 interessierten sie sich für den Antifaschisten Ferat Koçak, wie aus der Überwachung ihrer Handys hervorgeht. Sie beschatteten ihn, tauschten Informationen über ihn aus und versuchten, sein Autokennzeichen herauszufinden. Zunächst erfolglos: Erst Mitte Januar 2018 gelang es P., das Auto des heutigen Mitglieds der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus im Anschluss an eine linke Veranstaltung zu verfolgen. Kurze Zeit später suchte P. Satellitenbilder vom Familienhaus der Koçaks heraus, wie die Auswertung seiner Internetaktivitäten zeigt. T. und P. saßen an der Umsetzung »des seit längerem gehegten und stärker werdenden Wunsches, Koçak für sein Engagement öffentlich zu bestrafen«, wie die Staatsanwaltschaft die Vorbereitungen der beiden Nazis beschreibt.
Auch das antifaschistische Engagement des Buchhändlers Heinz Ostermann hatten T. und P. bereits ein Jahr vor der Brandstiftung nachweislich auf dem Schirm. Die geografische und zeitliche Nähe der beiden Angriffe reicht für die Staatsanwaltschaft aus, um für beide Fälle von denselben Tätern auszugehen. Besonders belasten P. jedoch seine eigenen Aussagen. Gegenüber einem Beamten des Staatsschutzes soll er mehr oder weniger ein Geständnis abgelegt haben, in der Untersuchungshaft vertraute er sich angeblich dem Mitgefangenen Maurice P. an, »nur Schmiere« gestanden zu haben. Und schließlich sagte auch die Ex-Freundin von P.s Bruder aus, Gespräche zu P.s Beihilfe mitgehört zu haben.
Obwohl nun nur einzelne Urteile in einem Prozess fallen, der ursprünglich fünf Haupt- und Nebenangeklagte umfasste, ruft die Staatsanwaltschaft in Erinnerung, dass es im Grunde um ein Netzwerk geht. Mit dem Ziel, die linke Szene einzuschüchtern, habe es seit 2013 vermehrt Angriffe gegeben. Die Brandstiftungen gegen Ostermann und Koçak seien die »letzten Brände, die dieser Serie zugeordnet werden können«. Immer wieder gehen die Staatsanwältinnen auf weitere vermutlich involvierte Neonazis ein. Nachrichten zu einer antifaschistischen Veranstaltung in Ostermanns Buchhandlung habe P. an Kontakte weitergeleitet. Auch die Aufforderung, eine Demonstration gegen rechts zu beobachten, wurde in Gruppenchats geteilt. Auch wenn sie es nicht direkt aussprechen, argumentieren die Staatsanwältinnen damit gegen ein Einzeltäternarrativ.
Ohnehin ist das letzte Urteil nicht gesprochen. Für Sebastian T. wird der Prozess im Januar fortgesetzt. Er ist neben der Brandstiftung und der rechtsextremen Sticker auch wegen besagter Drohgraffiti angeklagt. An vier Häusern tauchten vom 15. auf den 16. März 2019 in derselben roten Farbe Kelten- oder Fadenkreuze, Schriftzüge mit »9mm«, den vollen Namen der Betroffenen und Beleidigungen wie »Antifa Hurensohn« auf.
In dieser Sache sagen am Donnerstag zwei Zeugen aus, die von den Schmierereien betroffen waren. Simon B. arbeitete zu der Zeit bei der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus. Er erinnert sich, dass er in der Tatnacht nicht in Berlin gewesen sei. Bei seiner Rückkehr seien die Sprühereien bereits übermalt worden, doch Unbekannte hätten ihm zwei Fotos der Graffiti im Originalzustand in den Briefkasten gelegt. Danach habe er sich zu Hause nicht mehr sicher gefühlt. »Ich weiß, dass es nicht bei Schmierereien bleiben muss«, so B. Er habe in seinem Zimmer die Möbel umgestellt, weil davor sein Bett unter dem Fenster gestanden habe. Letzten Endes sei er umgezogen. »Natürlich ist es nicht mehr wie vorher.« Jonas L. hingegen fand die Graffiti vor allem »nervig«. Mehr beunruhigt den Zeugen die Frage, wie seine Adresse an die mutmaßlich rechtsextremen Täter gelangte. Vor Gerichte vermutet er, die Polizei habe seine Daten weitergegeben. L. wurde als linksextremer Gefährder vom BKA überwacht, nur deshalb gibt es Videoaufnahmen von der Tatnacht.
Linke-Politiker Ferat Koçak zeigt sich nach dem Freispruch enttäuscht, aber dennoch kämpferisch. »Es war wichtig, dass durch den Prozess diese Tatsachen nochmal ins Rampenlicht gezogen wurden. Klar bleibt für mich aber auch: Auf den Staat ist kein Verlass beim Kampf gegen Rechtsterrorismus und seine Strukturen. Das gilt für den NSU, das gilt für Hanau und Halle, das gilt für den Neukölln-Komplex. Antifaschismus geht nur selbstorganisiert von unten, dafür werde ich weiter kämpfen und mich niemals einschüchtern lassen.«
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