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Kick in der Kunstwelt

Bei einer Fußball-WM hat es noch nie solche Kulissen und so viele Schattenseiten wie in Katar gegeben

  • Frank Hellmann, Doha
  • Lesedauer: 8 Min.
Griff nach den Sternen: Die Fußball-WM in Katar sollte die beste aller Zeiten werden – doch hinter einer prächtigen Fassade zeigte das Turnier auch viele Schattenseiten im Gastgeberland auf.
Griff nach den Sternen: Die Fußball-WM in Katar sollte die beste aller Zeiten werden – doch hinter einer prächtigen Fassade zeigte das Turnier auch viele Schattenseiten im Gastgeberland auf.

Es hat am Sonntag fast nach der nächsten Reality-Show ausgesehen. Aber es passiert eben jedes Jahr am 18. Dezember, wenn Katar seinen Nationalfeiertag zelebriert, dass sich über den Lusail Boulevard eine Parade zieht, die ein bisschen an einen Rosenmontagszug erinnert, wobei im Norden von Doha keine Kamelle fliegen und keine Scherben auf den Straßen liegen. Blaskapellen, Reiterstaffeln, natürlich reihenweise Kamele und viele historische Gewänder, aber auch Pickups mit Pappmaché fuhren an den Menschen hinter Absperrgittern vorbei, die der Emir von Katar Hamad bin Khalifa Al Thani auf den Weg geschickt hatte. Die festlichen Aktivitäten erinnern jedes Jahr an die Vereinigung des Landes im Jahr 1878, als Scheich Jassim Bin Mohammad Bin Thani die Nachfolge seines Vaters als Anführer der Stämme von Katar antrat.

Menschen in himmelblauen Trikots sind am Wochenende einfach mitmarschiert. Argentinische Fußballfans, die wegen Lionel Messi ihren eigenen Nationalfeiertag zelebrierten. Zufall, dass das WM-Finale am Gründertag des Wüstenstaates in demselben Teil von Doha zur Austragung kam? Das Endspielstadion, die bombastische Goldschüssel, liegt in Lusail, zu dem auch ein Winter Wonderland auf Al Maha Island gehört. Dass alles am Ende mit einem gigantischen Vergnügungspark mit katarischem Anstrich verschmolzen ist, hätte ein Turnier nicht besser illustrieren können, das bisweilen an eine Fata Morgana erinnerte. War es aber nicht.

Katar hat sich erkauft, was es wollte. Genau die Stars, die über Paris St. Germain an den Strippen der Scheichs hängen, standen im Endspiel: Lionel Messi und Kylian Mbappé. Fast nur große Namen und Nationen im Viertelfinale, dazu mit Marokko ein erster Teilnehmer aus Afrika im Halbfinale, dem die arabische Welt die Daumen drückte. Es hätte für die Organisatoren nicht besser laufen können, die sich ermuntert fühlen, nun auch nach den Olympischen Spielen 2036 zu greifen. Das Vermächtnis der teuersten WM aller Zeiten – rund 250 Milliarden Euro – bleibt fragwürdig. Bei den acht Prachtstadien weiß niemand so genau, wer darin eigentlich mal spielen soll. Nachhaltigkeit geht definitiv anders. Besser ist da schon eine Metro, die mit ihrer Schnelligkeit, Zuverlässigkeit und Sauberkeit dem öffentlichen Nahverkehr in Deutschland eine lange Nase dreht. Was die Logistik, den Transport und die Organisation anging: Da liegt die Messlatte für Deutschland bei der EM 2024 sehr hoch. Das war schon nahe an der Perfektion.

Und bei der WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko, wenn von Vancouver bis Mexiko City, von Santa Clara bis Philadelphia gespielt wird und riesige Distanzen nur mit dem Flugzeug zu überbrücken sind, denkt manch einer vielleicht wehmütig an Doha zurück. Die kurzen Wege waren genauso ein Vorteil wie die hohe Sicherheit und das gute Wetter. Das Alkoholverbot hat bald schon keinen mehr gestört. Wenn Fangruppen einfach nur singen und nicht saufen, ist das mitunter angenehmer.

Nüchtern betrachtet: Ein Sommermärchen wie 2006 in Deutschland ist in Katar ganz sicher nicht zustande gekommen. Insofern gut, dass Jürgen Klinsmann als einer der prominentesten Architekten damals in das Gefasel des Fifa-Präsidenten Gianni Infantino von »der besten WM aller Zeiten« nicht einstimmen wollte. »Klinsi« grinste, als ihn diese Frage der Reporterlegende Hartmut Scherzer erreichte, der selbst seine 16. Weltmeisterschaft mitgemacht hat: »Es war eine wunderbare WM, auf dem Spielfeld, außerhalb des Spielfelds. Ich glaube, dass man das jedes Mal sagt und so empfindet, wenn man gerade bei einer WM ist«, antwortete der 58-Jährige, der ausdrücklich »Freundlichkeit und Höflichkeit« in Katar lobte. Doch hat dieses umstrittene Turnier auch echte Herzenswärme ausgestrahlt? Oder war es mehr organisierte Fröhlichkeit von Menschen, die eigentlich aus Indien, Bangladesch oder Kenia stammen? Zu einem Schmelztiegel der Kulturen wurde die gesperrte Prachtstraße Corniche. Wer von der Metrostation Richtung Meer ging, kam durch große Durchgänge, an denen Regenschirme in allen Farben hingen. Dieser Tunnel leuchtete bei Sonnenlicht bunter als jeder Regenbogen. Gleichzeitig war die Regenbogenbinde nicht erwünscht.

Die Wirklichkeit zu erkennen, war nicht einfach, wenn nicht unmöglich. Schon Zugänge zu den Stadien waren so angelegt, nie vom Weg abzukommen. Um bloß nicht hinter die Kulissen zu schauen? Im Asian Town Cricket Stadium haben jeden Abend abertausende Gastarbeiter beim Public Viewing die Spiele geschaut, weil sie hier im spartanischen Ambiente ein Gemeinschaftserlebnis hatten. Doch was dachten sie wirklich? Alles müsste genauer ausgeleuchtet werden, dazu hatten viele Touristen oder Journalisten bei einer WM aber gar keine Zeit. Nur: Es gab bei einer WM der Kontroversen kein schwarz oder weiß.

Direkt an der Metrostation West Bay Qatar Energy hing bis zuletzt noch das überdimensionale Konterfei von Manuel Neuer, direkt neben der Firmenzentrale von Qatar Energy. Der deutsche Kapitän Seite an Seite mit dem katarischen Staatsunternehmen für Erdöl und Erdgas. Ein Bild mit Symbolcharakter: Mitten während der WM unterzeichnete Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) einen Vertrag, der Deutschland in den nächsten 15 Jahren Flüssigerdgas aus Katar garantiert. Notwendig, weil Russlands Staatspräsident Wladimir Putin, bei der WM vor vier Jahren von Infantino hofiert, einen Krieg anzettelte, der die Weltordnung durcheinander gewirbelt hat.

Wenige Tage vorher hatte die Innenministerin Nancy Faeser im Stadtzentrum der Glitzermetropole einen medienwirksamen Meinungsaustausch mit deutschen Fans inszeniert, denen die bunte Binde beim Einlass ins Stadion abgenommen worden war. Trotzig spazierte Faeser mit »One Love«-Botschaft am Arm ins Khalifa Stadium. Gerade ihre Partei, die SPD, drängte den Deutschen Fußball-Bund (DFB) mit zum Protest. Aber milliardenschwere Deals werden von der Politik mit dem Emirat trotzdem besiegelt. Spätestens an dieser Stelle tat sich eine Doppelmoral auf.

Nicht nur sportlich ist der deutsche Auftritt in Katar gründlich missglückt. Dass ein vierfacher Weltmeister zweimal in der Vorrunde ausscheidet, das kann mal passieren, andere Topnationen haben sogar die Qualifikation vergeigt. Gerade erst der Europameister Italien. Aber die Alarmglocken müssen schrillen, wenn selbst Engländer oder US-Amerikaner, die nicht im Verdacht stehen, alles auf der Arabischen Halbinsel toll zu finden, die Hand-vor-den-Mund-Geste als eine überflüssige Belehrung empfanden. So war es nicht gemeint, so kam es aber rüber. Mit einem beträchtlichen Imageschaden. Weite Teile der Welt pflegten einen anderen Blick auf diese WM, deutlich unkritischer, unpolitischer. Die skandalöse Vergabe, die bis ins EU-Parlament reichende Beeinflussung wird ausgeblendet, weil man unterhalten oder einfach nur abgelenkt werden will. Fußball als schönste Nebensache der Welt. Das heißt nicht, dass die anderen Recht haben, aber es ist wichtig, um die unterschiedliche Wahrnehmung zu verstehen. In den meisten Ländern sind die Einschaltquoten nicht eingebrochen.

Selten jedoch hat das von der Fifa erzeugte Weltbild so wenig mit der Realität übereingestimmt. Ständig blendete die Regie lachende Frauen mit bunten Gesichtern auf den Tribünen ein, dabei waren die schon in einem prall gefüllten Metro-Waggon an den Fingern einer Hand abzuzählen. Gefühlt war der Anteil weiblicher Stadiongäste wohl so gering wie bei Weltmeisterschaften in den 70er und 80er Jahren, aber offizielle Angaben hatte die Fifa dazu nicht gemacht. Dafür hat sie tunlichst mitunter beträchtliche Lücken auf manchen Tribünen ausgeblendet – Flitzer sowieso. Und dass strittige Szenen nicht wiederholt wurden, wo der Videoassistent hätte eingreifen können, ja vielleicht müssen, gehört vielleicht auch zur »biggest show on earth«, zur größten Show der Erde, die Infantino ankündigte.

Überhaupt die Rolle des Fernsehens: Dass der katarische Sender BeIn für die arabische Welt seine Propagandamaschine anwarf, war ja zu erwarten, aber auch deutsche Anstalten müssen sich fragen, ob eine so einseitige Berichterstattung mit Experten, die zu Großteilen gar nicht in Katar waren, noch dem öffentlich-rechtlichen Anspruch entspricht. Der Politologe Kai Hafez warf in der »Süddeutschen Zeitung« speziell ARD und ZDF eine Einseitigkeit und eine immense Überheblichkeit vor. »Es gibt in Katar wirklich viel zu kritisieren, die schlechten Arbeitsbedingungen, das Vormundschaftssystem, die Rechte von Homosexuellen, aber diese Kritik muss auch eingebettet und kontextualisiert werden.« Dazu hätte auch ein angemessener historischer Überblick gehört: »Katar war vor 50 Jahren ein Dorf. Die grandiose Modernisierungsleistung dort ist in keiner Weise gewürdigt worden.«

Wer sich in Katar einen Monat bewegt hatte, wurde den Verdacht nicht los, dass selbst Teile der herrschenden Elite ein sonderbares Doppelleben führen. In bestimmten Bereichen der Luxushotels ist der Alkohol in Strömen geflossen, drängelten sich die Edelprostituierten am Tresen. Und beides nehmen wohl nicht nur wohlhabende Ausländer während einer WM ungeniert in Anspruch. Wer als Scheich so freizügig lebt, sollte eigentlich toleranter sein. Auch gegenüber LGBTQ-Gruppierungen. Aber vielleicht kommt das noch. Oder auch nicht?

Schlimm ist, wie Infantino die Kritik an nicht eingehaltenen Menschenrechten abbügelte; und wie sich der Weltverband die Zukunft vorstellt. Die Fifa will den Planeten mit den nächsten Wettbewerben fluten, die keiner braucht. World Series, Klub-WM mit 32 Mannschaften. Vermutlich hat das Fußball-Jahr dann bald 13 Monate. Wer dem Impresario im virtuellen Stadion des Mediencenters zuhörte, konnte heraushören, dass der 52-Jährige in acht Jahren eine WM in Saudi-Arabien ziemlich dufte finden würde.

Die Saudis haben für ihre Vision 2030 bereits Lionel Messi als Botschafter eingespannt, als Mitausrichter Ägypten und Griechenland gewonnen, um die formalen Hürden zu umgehen. Wenn der DFB in absehbarer Zeit seine Scherben zusammengekehrt hat, dann sollte er viel Energie darauf verwenden, sich schon mal Verbündete zu suchen, um eine Vergabe in ein Land zu verhindern, in der die Menschenrechtslage oder der Umgang mit Homosexuellen noch deutlich besorgniserregender ist, die Unterdrückung von Frauen noch rigoroser betrieben wird. Es muss offen mit allen drüber gesprochen werden, wie Weltmeisterschaften in Zukunft aussehen sollen. Sonst wird es bald Realsatire.

Lesen Sie alle unsere Beiträge zur Fußball-WM in Katar unter: dasnd.de/katar

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