Zwischen den Welten

Heimat-Ersatz für deutschsprachige Demenzpatienten im Norden Thailands – ein Projekt zeigt, wie das erfolgreich funktionieren kann

  • Thomas Berger
  • Lesedauer: 7 Min.
Foto Nok und Bruna
Foto Nok und Bruna

Angesichts des Pflegenotstandes und der schwierigen Situation in der Betreuung von Rentner*innen, auch weil sich das in Ländern wie Deutschland oder der Schweiz nicht jeder leisten kann, kommen weit entfernte Alternativen wie Baan Kamlangchay im nordthailändischen Chiang Mai ins Spiel. Von einem Pflegeheim redet hier niemand, weil die Bezeichnung sofort unzutreffende Bilder im Kopf erzeugen würde. Auch das Wort Patienten oder Heimbewohner nimmt Martin Woodtli, der Leiter von Baan Kamlangchay, ganz bewusst nicht in den Mund – daher spricht er immer von unseren »Gästen«, als würde es sich bei dem Projekt um ein Ressort oder ein Hotel handeln. Das mögen semantische Feinheiten sein oder Selbstdarstellung, wie mancher zu Anfang denken mag, basierend auf den Erfahrungen in heimischen Gefilden. Ein tieferer Einblick in das, was der Schweizer am östlichen Rande der nordthailändischen Großstadt Chiang Mai geschaffen hat, belehrt Skeptiker*innen dann aber schnell eines Besseren.

Baan bedeutet auf Thailändisch Zuhause, Haus oder Dorf. Und in der Tat hat der Gründer sein Projekt nicht etwa als Fremdkörper an diese Stelle gepflanzt, sondern bewusst in die lokale Gemeinschaft der Vorortsiedlung Namens »Faham Village«, etwa fünf Kilometer abseits des Altstadt-Zentrums der lebhaften Metropole, integriert. Dieses behutsame Agieren kann sicherlich als wesentlicher Teil der Erfolgsgeschichte angesehen werden. Schließlich kommen die Gäste von Baan Kamlangchay aus zwei geografisch mehrere tausend Kilometer entfernten Ländern, die zudem wesentliche kulturelle Unterschiede zu dem südostasiatischen Königreich aufweisen. Was zu Beginn als Wagnis erschien, hat sich inzwischen fest etabliert. Und die Anwohnenden profitieren sogar direkt von diesem Standort: Neu hinzugekommen ist zum Beispiel vor einiger Zeit der Minimarkt, welcher ein umfangreiches Sortiment anbietet an Bedarfsartikeln des täglichen Lebens . »Das war hier früher ein Wohnhaus«, erklärt Martin Woodtli bei einem aus dem Innern gebrachten Morgenkaffee mit Blick auf das Ladengebäude. Der einstige Supermarkt gegenüber hatte dichtgemacht, die Einwohner der Siedlung standen ohne Einkaufsmöglichkeit da. Dass Woodtli mit dem Minimarkt für Abhilfe sorgte, kam gut an. Nun können die Dörfler sich hier mit dem versorgen, was sie im Alltag so brauchen, ohne weite und kostspielige Wege auf sich nehmen zu müssen. Und auch für seine Gäste ist es ein sehr wichtiger Aspekt, erklärt Woodtli. »Einkaufen, das ist etwas Vertrautes« – gerade dann, wenn das Gehirn immer mehr Verbindungen abbaut, Erinnerungen sang- und klanglos im Nirwana verschwinden, ist dies noch ein Aspekt, der seit Kindesbeinen fest zum Leben gehört. Zumal mit dem Logo coop, das sichtbar draußen prangt, noch direkte Assoziationen ausgelöst werden. Vielleicht schafft das auch der Wegweiser vor dem Laden, dessen Schilder Beschriftungen wie Kufstein, Balmberg oder Oberstdorf samt Kilometerangaben tragen.

Die Bewohnerinnen von Baan Kamlangchay können in der Tat nicht mehr richtig ermessen, wo sie eigentlich sind. Demenz, das ist eine Diagnose, die bei Betroffenen wie Angehörigen zumeist Angst auslöst. Es ist das schrittweise Verlöschen einer individuellen Persönlichkeit, das anfangs noch langsame und vereinzelte, dann immer schnellere und umfassendere Abschalten von Abermillionen Erinnerungsfetzen eines ganzen Lebens. Mit Fortschreiten der Erkrankung werden die lichten Momente und die Möglichkeiten zum bewussten Interagieren mit anderen allerdings immer seltener, was die Angehörigen häufig überfordert und an ihre Grenzen bringt.

»Wir haben 14 Gäste in neun Häusern«, erläutert Martin Woodtli. Derzeit sind 13 Plätze belegt. Frühstück wird in zwei Gruppen eingenommen, danach geht es oftmals die nur kurze Distanz zum Schwimmbad, das aber so viel mehr darstellt als nur eine Bademöglichkeit. Musik aus der Konserve erklingt im Hintergrund. Die geistig wie körperlich noch etwas fitteren Schützlinge der Betreuungskräfte haben es sich auf diversen Sitzgelegenheiten bequem gemacht, diejenigen mit höherer Pflegeintensität sind in ihren Rollstühlen gebracht worden. Und während die einen alsbald in Gespräche vertieft sind, die nicht unbedingt einem klaren Muster folgen, hat bei den anderen Angehörigen dieser ganz besonderen Senioren-Großfamilie schon das Wellnessprogramm begonnen: Fußbad in Wasserschalen mit Zitrone, Massage, Einreiben. Eine Frau macht mit ihrer Pflegerin in einer Flaschenzugkonstruktion Fußübungen, und dass eine andere in ihrem Rollstuhl mit vernehmlichem Schnarchen schläft, stört niemanden.

Als »ein altes Hippiemädchen« hat Martin Woodtli Bruna vorgestellt. »Ja, das war gut«, sagt sie, als er erzählt, dass sie früher durch Indien und Afghanistan gereist ist. Dabei leuchten ihre dunklen Augen in dem von weißen Haaren umrahmten Gesicht. Tiefer ins Gespräch kommen lässt sich zwar auch mit ihr nicht mehr. Aber unbeantwortet steht die Frage im Raum, was die Erwähnung des Hippietrails vielleicht doch noch an Erinnerungsfetzen in ihrem Kopf aktiviert haben mag. »Tanzen ist gut«, auch da gibt es mit den Klängen im Hintergrund einen Anknüpfungspunkt. »Die Musik seit den Anfängen hier hat sich auch verändert«, berichtet Woodtli. Waren es zunächst eher Schlager, sind es nun Titel wie in diesem Moment »California Dreamin’«, zu dem Bruna im Stuhl hin- und herschwingt.

Es war seine eigene Mutter, mit der Martin Woodtli vor zwei Jahrzehnten das Experiment gewagt hat, sie nach Thailand zu holen, wo der Schweizer zuvor bei Nichtregierungsorganisationen gearbeitet hatte. Nach dem Freitod seines Vaters, den seine an Alzheimer erkrankte Frau schließlich nicht mehr erkannt hatte, betreute er seine Mutter zunächst zehn Monate in der Schweiz, noch auf der Suche nach einer passenden und zugleich bezahlbaren Pflegeeinrichtung. Im Dezember 2002 zog er dann mit ihr nach Thailand – zunächst offenlassend, ob als Urlaub oder für immer. Es war zweifellos ein Wagnis: »Einen alten Baum verpflanzt man nicht«, so ein bekanntes Sprichwort. Noch unwägbarer ist solch ein Schritt bei einem Menschen, für den das eigene Zuhause bei fortschreitender Erkrankung vielleicht der letzte Bezugspunkt für Vertrautheit sein mag. Doch das Experiment glückte: »Meine Mutter hatte hier noch eine gute Zeit«, ist er heute trotz anfänglicher Zweifel überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Basierend auf diesen positiven und persönlichen Erfahrungen erwuchs Stück für Stück von einer anfänglich kleinen Gemeinschaft bis zur heutigen »Großfamilie« das Projekt. Inzwischen sind 55 Beschäftigte vor Ort beschäftigt. Denn jeder der Demenzkranken hat im Schichtbetrieb immer eine 1:1-Betreuung, also drei Pflegekräfte als persönliche Bezugspersonen für jeden einzelnen Gast. »Viele nehmen sich ja die Heimat im Geiste mit, richten sie sich hier neu ein«, weiß Woodtli schon von seiner Mutter, die sich im Dorf neue Bezugspunkte schuf, wo sie zum Beispiel angeblich zur Schule gegangen war. »Bei jüngeren Erkrankten kann es mit dem Fortschreiten schneller gehen«, dafür habe man als Gegenbeispiel einen 91-Jährigen, der vor vier Jahren ankam und immer noch recht fit und kommunikativ sei. Eine neue Erfahrung für Woodtli und die ganze Belegschaft war, dass es unlängst binnen nur drei Wochen vier Todesfälle gab. »Das gab es so noch nicht, hatte sich aber schon abgezeichnet.« Ein Mann wohnte seit sieben, eine Frau sogar schon seit 15 Jahren im Projekt. Frei werdende Plätze werden aber in der Regel zeitnah wieder besetzt. Die harte Corona-Zeit hat die Gemeinschaft recht gut überstanden, erzählt der Einrichtungsleiter, wenngleich es beim um sichgreifen der Deltavariante sogar zu einem Todesfall kam. Sonst gab es nur drei, vier Fälle mit mildem Verlauf: »Ansteckungen bei den Betreuerinnen waren da ein größeres Problem.«

»Die Beziehung zwischen Gast und Betreuungsperson steht im Mittelpunkt«, betont Woodtli. Und das begeistert auch die Pflegekräfte, die es schätzen, Zeit zu haben für ihre Anvertrauten. Ganz anders als im stressigen Klinikalltag in westlichen Pflegeheimen schwärmt auch Brunas Pflegerin Nok, die vor drei Jahren ihre Stelle in einem lokalen Krankenhaus kündigte, um nach Baan Kamlangchay zu wechseln, vom Verhältnis zu ihren Gästen. »Das hier ist ein sehr persönliches Verhältnis«, sagt Nok und reicht Bruna das Glas zum Trinken. Auch das Gehalt von je nach Berufserfahrung 11 000 bis 12 000 Baht (bis 330 Euro) im Monat ist oft deutlich mehr, als sich im Hospital bei einem Vielfachen an Stress und beruflichen Herausforderungen verdienen ließe.

61 Jahre ist Woodtli inzwischen alt, dazu Vater eines 13-jährigen Sohnes. Wie es irgendwann mal ohne ihn weitergeht, darüber denkt er bei Gelegenheit schon einmal nach, an einen Rückzug aus dem Alltagsgeschäft vergeudet er aber noch keinen Gedanken. Seine Ehefrau – eine Einheimische – ist in der Lokalpolitik aktiv, sitzt mit im Gemeinderat von Faham Village, zudem hat Wodtli in den vergangenen 19 Jahren des Projektbestehens viele Kontakte geknüpft. Auch zu anderen Kliniken. »Den Stress, jemanden dorthin zu verlagern, setze man einen Gast aber nur im größten Notfall aus«, gibt er zu verstehen.Die chronische Krise im Pflegesektor in Europa, basierend auf der Tatsache, dass Gesundheit inzwischen eine Ware geworden ist, wird an diesem Ort nicht stattfinden.

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