Prozess gegen Ärztekammerpräsidentin

Türkische Justiz wirft ihr Unterstützung der kurdischen Arbeiterpartei PKK vor

  • Svenja Huck, Istanbul
  • Lesedauer: 5 Min.

Anlass für die Verhaftung war ein Interview, das Şebnem Korur Fincancı Mitte Oktober dem Fernsehsender Medya Haber TV gegeben hatte. Darin bewertete die Vorsitzende der türkischen Ärztekammer (TTB – Türk Tabip Birliği) Videoaufnahmen, die einen mutmaßlichen Giftgas-Angriff der türkischen Armee gegen PKK-Kämpfer*innen zeigen sollen. Fincancı benannte in dem Interview keine Akteure namentlich, sondern plädierte dafür, dass eine unabhängige Delegation die Vorwürfe vor Ort untersuchen müsse. Dabei bezog sie sich unter anderem auf das Minnesota-Protokoll, das zur Untersuchung potenziell rechtswidriger Todesfälle verfasst wurde. Insbesondere Vorfälle, bei denen der Verdacht auf die Verantwortung eines Staates besteht, stehen dabei im Vordergrund.

Der Prozess beginnt an diesem Freitag vor dem Caglayan-Gericht in Istanbul. Die international renommierte Forensikerin und Menschenrechtsverteidigerin wurde Ende Oktober mit dem Vorwurf der Terrorpropaganda in ihrer Wohnung festgenommen. Zahlreiche türkische und internationale Menschenrechtsorganisationen und Berufsverbände fordern seitdem die sofortige Freilassung der Medizinerin.

Kurz nach der Veröffentlichung des Interviews, das Fincancı während ihres Aufenthalts in Deutschland per Videoübertragung gab, verbreiteten sich verkürzte Ausschnitte in den sozialen Medien. Regierungsnahe Medien warfen ihr vor, die türkische Armee eines Giftgaseinsatzes zu beschuldigen und dadurch Propaganda für die PKK zu betreiben. Der Vorsitzende der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahçeli, rief außerdem in einer Rede vor MHP-Unterstützer*innen, dazu auf, die Ärztekammer zu verbieten. »Wer auch immer den Diffamierungen der spalterischen Terrororganisation PKK glaubt und die ehrenhaften türkischen Soldaten beleidigt, der ist ein Terrorist und Verräter, an dem das Blut unserer Märtyrer klebt«, sagte Bahçeli. Demnach sei es rechtens und eine unverzügliche Verpflichtung des Staates, dass die TTB-Vorsitzende nun den Preis für ihr Handeln zahle.

Dr. Vedat Bulut, Generalsekretär der TTB, sieht in dieser Aussage eine doppelte Bedrohung. »Einerseits lässt es sich verstehen wie eine Anweisung an die Justiz. Anderseits muss man wissen, dass es in der Türkei kriminelle Banden gibt, zu deren Zielscheibe wir gemacht werden«, erklärt Bulut gegenüber »nd«. »In der Türkei gab es immer wieder unaufgeklärte Morde, die von staatlicher Seite motiviert wurden. Ich erinnere nur an den Fall von Hrant Dink.« Drohungen wie die des MHP-Vorsitzenden würden solchen Angriffen den Weg ebnen, warnt Bulut.

Fincancıs Anwälte übermittelten der BBC Türkei die Einschätzung ihrer Mandantin, wonach es sich bei dem Prozess nicht nur um ein Verfahren gegen sie handele, sondern um den Versuch, die Gesellschaft zum Schweigen zu bringen. »Ebenso wie die Untersuchungshaft wegen des Vorwurfes der Propaganda nicht akzeptabel ist, genauso offensichtlich kann man niemanden auf Grund potenzieller Fluchtgefahr festhalten, der nach der Aufnahme von polizeilichen Ermittlungen aus dem Ausland in die Türkei zurückkehrt«, zitiert BBC Fincancı. Es handele sich deshalb nicht um einen juristischen, sondern einen politischen Prozess.

»Die Verhaftung von Frau Professor Fincancı stellt einen Angriff auf das Recht zur freien Meinungsäußerung und auf die ärztliche Selbstverwaltung dar. Ärztinnen und Ärzte sind dem Wohlergehen der gesamten Gesellschaft verpflichtet. Diese Haltung ist der Kern des ärztlichen Selbstverständnisses«, schrieb der Präsident der deutschen Bundesärztekammer Dr. Klaus Reinhardt in einem Appell an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Der Ärztebund TTB wurde 1953 gegründet und schließt die Ärztekammern des Landes zusammen. Mit rund 100 000 Mitgliedern organisiert er 88 Prozent der Ärzt*innen in der Türkei. Seit ihrer Verhaftung erhielt Fincancı Solidaritätsbekundungen aus der ganzen Welt, die auf der Webseite der TTB gesammelt werden.

Im Vorfeld des Prozesses solidarisierten sich auch zahlreiche Studierende der medizinischen Fakultäten in der Türkei mit der TTB-Vorsitzenden. Sie organisierten Mahnwachen an öffentlichen Plätzen und riefen zur Prozessbeobachtung auf. Auch die 22-jährige Medizinstudentin Nevin Durdu von der Istanbul Universität verfolgt den Fall. »Obwohl viele von uns traurig sind über die Verhaftung, ist niemand überrascht«, erklärt sie »nd«. In der Türkei gäbe es eine lange Tradition von politisch aktiven Ärzt*innen, viele ihrer Professor*innen seien ebenfalls Mitglieder der TTB und anderer Menschenrechtsvereine. »Viele Ärzt*innen sind sich über die Probleme und Ungerechtigkeiten des Landes im Klaren. Die TBB ist ein Verband, der dies zur Sprache bringt und Professorin Şebnem Korur als Vorsitzende hat keine Angst, politisch gegen den Regierungskonsens zu handeln«, sagt Durdu. Als Mediziner*in sei es in der Türkei immer schwieriger zu arbeiten, ohne politisch involviert zu sein. »Die schlechte Situation des Landes spiegelt sich direkt in unserem Arbeitsumfeld. Sobald man versucht, grundlegende Menschenrechte für sich oder Minderheitengruppen einzufordern, kann man sich sicher sein, nicht lange frei zu bleiben.« Das habe Durdu auch schon am eigenen Leib erfahren müssen.

Als Prozessbeobachter*innen haben sich zahlreiche Vertreter*innen von Menschenrechtsorganisationen angekündigt, darunter auch die EU-Delegation in der Türkei. Generalsekretär Bulut erwartet am Freitag noch keine endgültige Entscheidung des Gerichts. »Wir hoffen aber, dass die Untersuchungshaft aufgehoben wird«, sagte Bulut gegenüber »nd«. »Fincancı wird am Freitag eine historische Verteidigungsrede halten, vielleicht die beste der letzten zehn Jahre«, kündigt Bulut an.

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