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  • "Passagiere in der Nacht"

Alles weichgezeichnet

In Mikhaël Hers’ »Passagiere der Nacht« begegnen sich nur Figuren, die es ausschließlich gut miteinander meinen

  • Marit Hofmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Wohlwollen und Großzügigkeit, das ist der Stoff, aus dem Hers Filmheldinnen gemacht sind.
Wohlwollen und Großzügigkeit, das ist der Stoff, aus dem Hers Filmheldinnen gemacht sind.

Ins Kino gehe sie vor allem, wenn es draußen kalt sei, sagt Talulah. Doch diesen guten Grund kann Regisseur und Drehbuchautor Mikhaël Hers nicht so stehenlassen. Dort, ergänzt die Achtzehnjährige, könne man sich so gut selbst verlieren, das mache »etwas mit einem«. Das wohnungslose Junkiemädchen ist angefixt von der in »Passagiere der Nacht« viel beschworenen Magie des Kinos – insbesondere von Eric Rohmers »Vollmondnächten«, in die sie sich irrtümlich schleicht (eigentlich wollte sie »Gremlins« sehen). So fasziniert ist Talulah von Rohmers Comédie d’amour, dass sie bald darauf die Nachricht vom frühen Tod der Hauptdarstellerin Pascale Ogier kalt erwischt.

Talulah, gespielt von Noée Abita, die Ogier auffällig ähnelt, ist eine der titelgebenden Passagiere der Nacht – jene ruhelosen Seelen, mit denen Emmanuelle »Die Stimme« Béart als einfühlsame Moderatorin in ihrer nächtlichen Radiosendung ins Gespräch kommt. Unterstützt wird sie von der alleinerziehenden Elisabeth (die Ikone Charlotte Gainsbourg ungeschminkt als »eine von uns«), die, nach überstandener Krebserkrankung von ihrem Mann verlassen, hier den dringend benötigten Job findet. Die Sympathieträgerin verguckt sich (mütterlich) in Talulah und quartiert sie in ihrer Rohmerschen Kulissen entlehnten Pariser Hochhauswohnung ein. Woraufhin auch ihr Sohn, Dichter in spe, Gefühle für die mysteriöse Schöne, die immer wieder abtaucht, entwickelt.

Die Adoptivfamilie nimmt Talulah nicht nur arg symbolisch beim gemeinsamen Tanz zu Joe Dassins Chanson-Klassiker »Et si tu n’existait pas« in ihrer Mitte auf, sie hilft ihr auch mal eben durch den Drogenentzug. Weniger vorzeigbare Seiten der Sucht und der Stadt (mehrmals muss der angestrahlte Eiffelturm herhalten) stören nur das romantische Genrebild. »Ich denke oft an die Momente, die wir gemeinsam erlebt haben, sie sind wie Geschenke«, schreibt Talulah in einem Abschiedsbrief. Das Kino, in dem sie nun jobbt, ist zu ihrer Rettung geworden.

In diese »éducation sentimentale in zwei Lebensabschnitten« – Mutter und Sohn begeben sich auf die Suche nach Liebe und Berufung – hat Hers Archivaufnahmen aus dem Paris der Achtziger, die »dem restlichen Film Realität« verleihen sollen, elegant eingewoben: zu Beginn die nicht lange anhaltende Aufbruchstimmung auf den Straßen, als der Sozialist François Mitterand 1981 Präsident wurde, später Alltagsszenen, etwa Passagiere in der Metro, einer davon Rohmers Nouvelle-Vague-Kollege Jacques Rivette.

Was für die Bilder gilt, die Hers durch Filter weicher gemacht hat, gilt ganz bewusst auch für die Geschichte. »Meine Filme sind nicht konfliktlastig«, räumt Nostalgiker Hers ein. »In diesem Film lieben sich meine Figuren, sie helfen sich gegenseitig, passen aufeinander auf. Ich mag dieses Wohlwollen und die Großzügigkeit, die der Stoff ist, aus dem Filmheld*innen gemacht sind.« Da hat sein Vorbild Rohmer deutlich mehr Ambivalenz und analytische Tiefe zu bieten.

Sollte sich eine Obdachlose in die Nachmittagsvorstellung von »Passagiere der Nacht« verirren, kann man nur hoffen, dass das Kino gut geheizt ist.

»Passagiere der Nacht«: Frankreich 2022. Regie: Mikhaël Hers. Mit: Charlotte Gainsbourg, Noée Abita. 111 Minuten. Start: 5.1.

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