Mit Gramsci ins neue Jahr

Silvester ist ideologischer Quatsch. Die Kritik daran aber auch

Posterboy der Radikalität? Wer Gramsci ernst nehmen will, muss sich den gesellschaftstheoretischen Fragen stellen, die sein Denken aufwirft.
Posterboy der Radikalität? Wer Gramsci ernst nehmen will, muss sich den gesellschaftstheoretischen Fragen stellen, die sein Denken aufwirft.

Antonio Gramsci hasste Neujahr – und dafür lieben ihn Linke. Wer Silvester mit guten Vorsätzen und Jahresrückblick gefeiert hat, so Gramsci, der richte sein Leben wie im Jahresabschluss eines Geschäftsjahres ein. Das Bilanzieren und erhoffte Neuanfangen führten »zum Verlust des Sinns für Kontinuität des Lebens und des Geistes«, wie der italienische Kommunist schrieb, der 1926 von Faschisten inhaftiert wurde. Gramsci wollte lieber jeden Tag »mit mir selbst abrechnen« oder zumindest auf neue Festivitäten im Sozialismus warten, die »wenigstens unsere sein« würden.

Die Pöbelei gegen das Silvester-Brimborium, die Gramsci am Neujahrstag 1916 veröffentlichte, verbreitet seit jeher linke Wohlfühlstimmung im Unbehagen mit der bürgerlichen Gesellschaft. Denn Gramsci prangerte den »geistigen Konformismus« an, den »gezwungenen kollektiven Reim« und die Augenwischerei, die verhindere, »zu sehen, dass die Geschichte sich auf derselben grundlegenden unveränderten Linie weiter entwickelt«, statt mit einem Jahreswechsel neu zu beginnen. Es tut gut, diesen ideologischen Verblendungen nicht zu erliegen und auf der Seite der Kritik zu stehen. 

Glücklicherweise bleibt Gramscis Diagnose so allgemein. Sonst könnte man sie nicht über 100 Jahre später noch rezitieren und dabei herrlich konsequenzlos bleiben. Die Rosa Luxemburg Stiftung zitierte etwa auf Twitter den »Neujahrshasser« und schob mit Zwinkersmiley hinterher: »Trotzdem alles Gute für das neue Jahr.« 

Das Schicksal als Posterboy für Radikalität hat den armen Gramsci nicht nur mit seinen Neujahrszitaten ereilt. Oft trifft man ihn auch als theoretischen Stichwortgeber, wo die Simulation von Theorie schon ausreicht. In einigen linken Krisendiagnosen der letzten Jahre fand sich etwa Gramscis Begriff des Interregnums zitiert, jener Zwischenphase, in der das Alte sterbe und das Neue noch nicht geboren sei. Das mag eine passende Beobachtung zu Gramscis Zeit gewesen sein. Aber wenn Interregnum einfach nur bedeuten soll, dass ein in die Krise geratener Kapitalismus im Sterben liege und vielleicht autoritäre Herrschaft oder ein neuer Sozialismus daraus folge, ist das Plattitüde. Diese dient eher der Mutmacherei als der Erkenntnis. Die Zukunft sei eben doch noch nicht entschieden, jeden Tag kann das Ruder rumgerissen werden, jeden Tag können wir »abrechnen« und »erneuern«. 

Aber was ist es denn nun? Ist der Kapitalismus jene »unveränderte Linie« der gesellschaftlichen Entwicklung, über die ein Jahresbeginn nur hinwegtäuscht, oder ein System in der Krise, dessen Schwachstellen permanent die Möglichkeit zum politischen Kräftemessen und Neuanfang bieten? Schon Gramsci hatte auf diese grundlegende Frage der Autonomie oder Heteronomie nur die bescheidene Antwort der relativen Autonomie des Politischen. Das heißt im schlechtesten Falle: Wir wissen es gar nicht genau. Wer aber das Schimpfen auf die bürgerliche Gesellschaft nicht nur als Koketterie meint, muss auf diese offenen Fragen Antworten finden. Um mit der Kritik ernst zu machen ist es – nach Gramsci gesprochen – hoffentlich nie zu spät.

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