»Wahrheit und Gerechtigkeit«

In Paris gedenken Zehntausende der Anschläge auf kurdische Aktivisten vor zehn Jahren und im Dezember. Sie fordern Aufklärung der Taten

  • Tim Krüger, Paris
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein Gedenkmarsch erinnert an die ermordeten kurdischen Aktivist*innen vom 9. Januar 2013.
Ein Gedenkmarsch erinnert an die ermordeten kurdischen Aktivist*innen vom 9. Januar 2013.

Der Eingang der Rue La Fayette 147 ist geschmückt mit Blumenkränzen. Vor zehn Jahren wurden hier am 9. Januar 2013 die drei kurdischen Aktivistinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan, Leyla Şaylemez in den Räumlichkeiten des Kurdistans-Informationszentrums ermordet. Das unscheinbare Gebäude ganz in der Nähe des Pariser Nordbahnhofes wurde zum Schauplatz eines Verbrechens, dessen politische Bedeutung weit über die französische Metropole hinausreicht. Während die Hintergründe der Tat zunächst unklar waren, gilt es mittlerweile als erwiesen, dass der Mörder Ömer Güney im Auftrag des türkischen Geheimdienstes MIT gehandelt hat. Doch die französischen Behörden weigern sich bis heute, die Ermittlungsakten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Kurdische Aktivst*innen vermuten dahinter ein Kalkül des französischen Staates, um die Verstrickungen europäischer Nachrichtendienste und das Ausmaß der Aktivitäten der türkischen Nachrichtendienste auf europäischem Boden unter Verschluss zu halten.

Der Marsch am Samstag fand in diesem Jahr unter großem Sicherheitsaufgebot statt. Am Nachmittag versammelten sich die Demonstranten zu einer zentralen Kundgebung auf der Place de la République. Während die Organisatoren von mindestens 25 000 Teilnehmern sprachen, ging die Polizei von rund 10 000 Demonstranten aus. In der südfranzösischen Stadt Marseille gingen nach Schätzung von AFP-Reportern rund 1200 Menschen auf die Straße. Zu Tausenden tragen die Demonstrierenden heute die Gesichter der drei ermordeten Frauen auf ihren Flaggen. »Vérité et Justice« prangt in schwarzen Lettern auf dem lilafarbenen Stoff – Wahrheit und Gerechtigkeit. Es ist nicht die erste Demonstration seit der Ermordung der drei kurdischen Aktivistinnen der Arbeiterpartei PKK. Jedes Jahr strömen zehntausende Kurd*innen aus ganz Europa in die Pariser Innenstadt, um eine konsequente Aufklärung des politischen Attentats einzufordern und der Ermordeten zu gedenken.

Nur wenige Wochen vor der geplanten Demonstration fand ein weiteres Attentat statt: Die Vorbereitungen standen kurz vor dem Abschluss und die Mobilisierung hatte schon begonnen. Für den Vormittag des 23. Dezember war eine große Versammlung einberufen worden, um die letzten Details zu besprechen. Weil die Sitzung spontan um eine Stunde nach hinten verschoben wurde, halten sich am Vormittag nur wenige Menschen in den Räumlichkeiten des Ahmet-Kaya Kulturzentrums auf. Man trinkt Tee und Kaffee, oben auf den Treppen, die zum Absatz vor der Eingangstüre führen, werden Zigaretten geraucht und es wird sich unterhalten. Alle warten auf die Ankunft der anderen Sitzungsteilnehmer*innen. Rund 60 Frauen aus unterschiedlichen Teilen der Stadt und den Pariser Vororten werden für das Treffen erwartet. Ein Fahrzeug fährt langsam die Straße herunter, hält ungefähr 30 Meter entfernt vom Eingang an und ein älterer Mann steigt aus. Der PKW fährt weiter und der Mann im Rentenalter bewegt sich zügig in Richtung des Vereins. Er besteigt die Treppenstufen zur Eingangstür, wirft einen Blick in das Innere des Vereins und sieht sich um.

Unvermittelt zieht er eine Pistole der us-amerikanischen Marke Colt 1911, eine Waffe die wegen ihres für eine Handfeuerwaffe großen Kalibers auch gern im militärischen Bereich genutzt wird, und feuert auf Abdurahman Kizil, welcher sich links von der Tür befand. Die Kugel trifft Kizil in den Kopf, er hat keine Chance zu überleben. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, drückt der Täter ein weiteres Mal ab und eine Kugel durchschlägt die Brust von Evîn Goyî. Die langjährige Aktivistin und Kämpferin für die kurdische Sache ist schwer getroffen, fällt zu Boden, bleibt aber vorerst bei Bewusstsein. Mîr Perwer, ein bekannter kurdischer Musiker, wird bei dem Versuch, den beiden zur Hilfe zu eilen, angeschossen. Er ist schwer verwundet, kann sich jedoch noch in das direkt auf der anderen Straßenseite liegende kurdische Restaurant »Avesta« retten. Der junge Musiker erliegt wenig später dem massiven Blutverlust.

So schildert ein junger Mann den Ablauf einige Wochen später. Hinter ihm stehen die Bilder der Ermordeten, aufgebahrt an der Stelle ihres Todes, geschmückt mit Blumen und Kerzen. Für viele hier gilt Evîn Goyî als das eigentliche Ziel des Angriffes. Die kurdische Frauenaktivistin kämpfte seit mehr als 30 Jahren für die kurdische Sache. Als langjährige Guerillakämpferin und Kommandantin der Frauenverteidigungseinheiten YPJ im Kampf gegen den Islamischen Staat galt sie als Führungspersönlichkeit. Sie war es, die die Vorbereitungen für die diesjährige Demonstration leitete.

In der kurdischen Gemeinschaft von Paris ist man sich einig, dass es sich bei dem Attentat nicht um die Zufallstat eines rassistischen Einzeltäters handelt. Viele vermuten, dass auch hinter diesem zweiten Attentat fast zehn Jahre nach den Morden vom 9. Januar 2013 der türkische Nachrichtendienst MIT stecken könnte. Für Baran Gündüz, den Sprecher des Dachverbandes aller kurdischen Vereine in Frankreich (CDK-F), ist der Dreifachmord ein »Terrorangriff« gegen die Kurden in Frankreich. »Es kommt jeden Tag zu neuen Drohungen und Gewalt. Schon jetzt kam es zu zwei Terrorangriffen gegen unsere Institutionen«, erklärt Gündüz und ergänzt, dass die Kurden in Frankreich um ihr Leben fürchten müssten. Mit der Einzeltäter-Theorie will man sich hier nicht zufriedengeben. Die französischen Behörden müssten allen Hinweisen nachgehen und auch die Möglichkeit von »Verbindungen zu rechtsradikalen türkischen Gruppen« in die Ermittlungen einfließen lassen. Die Demonstration am Samstag wird wohl nicht die letzte in Paris gewesen sein. Man wolle solange demonstrieren, bis die Täter und Hintermänner ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden.

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