Das Ende einer Friedenserzählung

Ulrike Guerot und Hauke Ritz kritisieren die Gängelung Europas durch die USA

  • Arne C. Seifert
  • Lesedauer: 4 Min.

Wir lehnen den lächerlichen Begriff Putinversteher ab.» Ein starker Auftakt, dem die Kritik folgt, dass «das Russland-Bild im Westen falsch oder doch zumindest sehr unzureichend» sei. Ulrike Guerot und Hauke Ritz lassen die Leser eingangs wissen: «Wir erlauben uns, in zweierlei Hinsicht ganz neu zu denken: einmal mit Blick auf die Genese des Ukraine-Krieges; zum anderen mit Blick darauf, wie Europa als dezentrale politische Einheit jenseits der EU in einer europäischen Demokratie ausgestaltet werden könnte, damit Europa auch im 21. Jahrhundert geeint bleibt und auf diesem Kontinent friedlich zusammen mit Russland leben kann.» Der Zwangsjacke «political correctness» verweigert sich das Autoren-Duo explizit.

Die Politikwissenschaftlerin und der Geschichtsphilosoph wollen zu verschwiegenen Zusammenhängen und Wahrheiten vordringen, Hintergründe, Intentionen, kausale und historische Ursprünge sowie konkrete Auslöser des Ukraine-Krieges offenlegen und eruieren, warum «Europa, das einstige Friedensprojekt, im Krieg ist», der «als Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland zu entgleisen droht». Europa riskiere, seine Emanzipation zu verspielen und seine Selbstständigkeit zu verlieren, mahnen die Autoren.

Mit beeindruckender historischer Präzision verfolgen Guerot/Ritz die Etappen und taktischen Schachzüge der USA nach dem Ende des Kalten Kriegs, mit denen es gelang, ab 1989/90 sukzessive vor allem Deutschland von Russland zu entfremden. Der Verfasser dieser Rezension fand in den Erinnerungen von Robert L. Hutchings, einst außenpolitischer Referent der Administration von George W. Bush sen. das Eingeständnis: Für die USA hätten «ihre künftige Rolle und Präsenz in Europa und die künftigen Sicherheitsstrukturen Europas und ihre jeweilige Beziehungen zur Sowjetunion» auf dem Spiel gestanden. Vor allem habe man in Washington einen Austritt aus der Nato oder zumindest auf der Verbannung von Atomwaffen von deutschem Boden« befürchtet. Hutchings begleitete im Februar 1990 den US-amerikanischen Außenminister James Baker zu Gesprächen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, um deren Haltung zu einer Osterweiterung der Nato zu sondieren – zu einer Zeit, als der Warschauer Vertrag noch bestand.

Guerot und Ritz kommen nun, 30 Jahre danach, zum Befund: »Die deutsche wie die europäische Außenpolitik gleiten vollends in die Welt der USA hinein«. Bleibt die Frage: War dies unausweichlich, quasi schicksalhaft? Keineswegs! Vor drei Jahrzehnten vermochten europäische Politiker noch das west-östliche Staatenverhältnis vor einem damals real existierenden Damoklesschwert permanenter gegenseitiger Sicherheitsbedrohung zu bewahren und ihr (auch persönliches) Verhältnis zu entspannen und in Takt zu halten. Es galt damals noch das Primat gegenseitiger Sicherheit und Zusammenarbeit, welches Staatsführungen zu friedlicher Koexistenz motivierte. Bundeskanzler Helmut Kohl sowie Außenminister Hans-Dietrich Genscher arbeiteten gemeinsam mit dem sowjetischen Partei- und Staatschef Michael S. Gorbatschow an der Gestaltung einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsordnung, verstanden als kooperative Koexistenz. NatoGeneralsekretär Manfred Wörner entwickelte 1990 das Konzept einer »zukünftigen Sicherheitsstruktur für Europa«: »Es gilt, einen Sicherheitsrahmen zu schaffen, welcher die Sowjetunion in ein kooperatives Europa einbezieht.« Dem stand damals sogar die »nicht demokratische« Konstitution der Sowjetunion nicht im Wege.

Guerot/Ritz bedauern, dass Europa nun seine »Friedenserzählung« verrät. Sie sprechen vom »europäischen Selbstbetrug« und fordern die europäischen Politiker und Entscheidungsträger auf, »endlich das Eigentliche zu diskutieren«. Der Anspruch des Westens, seinen Wertekanon zu internationalisieren und sein selbstherrliches Verständnis, wonach die Verbreitung westlicher Demokratie Sicherheit befördere, steht einer kompromiss- und konsensorientierten Politik friedlicher Koexistenz diametral entgegen. Guerot/ Ritz konstatieren als Ergebnis US-amerikanischer Dominanz in Europa, dass »weder eine europäische Einheit noch eine konföderale Partnerschaft und Sicherheit mit Russland zustande gekommen sind und Europa auf ein Rumpf-Dasein zusteuert. Europa ist mit dieser Politik im Dead End«, in einer Sackgasse also.

Guerot und Ritz ist für ihr klares Essay gegen den heute in westlichen Staaten dominanten Bellizismus zu danken. Ihr Buch ist auch als Ermunterung zu verstehen, sich dem zu widersetzen und nicht allen Behauptungen von Politik und Medien Glauben zu schenken, stattdessen diese stets kritisch zu hinterfragen.

Ulrike Guerot/Hauke Ritz: Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist und wie wir wieder davon träumen können. Westend, 208 S., geb., 20 €.

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