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Das delikate Dutzend

Historiker Ian Kershaw porträtiert zwölf Mächtige, die Europa prägten – oder zerstörten

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 6 Min.
Zwei »Geschichtsmacher«: Winston Churchill (links) und Josef Stalin bei einem Treffen im Moskauer Kreml.
Zwei »Geschichtsmacher«: Winston Churchill (links) und Josef Stalin bei einem Treffen im Moskauer Kreml.

Das Anliegen von Ian Kershaw ist nicht neu, aber faszinierend wie eh und je. Der britische Historiker (79), Autor einer hochgelobten zweibändigen Hitler-Biografie und zweier ähnlich prägender Werke über Europas Schicksal im 20. Jahrhundert, geht in seinem neuen Buch »Der Mensch und die Macht« der ewigen Frage zur Prägekraft des Einzelnen für den Gang der Geschichte nach. Er konzentriert sich wieder auf Europa und hat sich das »Zeitalter der Extreme« (Eric Hobsbawm) vorgenommen, aus dem er zwölf »Geschichtsmacher« auswählte, die in seinen Augen »Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert« waren.

Die Dutzendmischung ist ebenso delikat wie disparat. Das resultiert daraus, dass Kershaw moralische Kriterien hintanstellt und allein die gesellschaftsverändernde Wirkung der jeweiligen Personen zum Maßstab macht. Die zwölf Mächtigen, die er in zwölf Kapiteln chronologisch reiht, biografisch beleuchtet und politisch wertet, sind: Lenin, Mussolini, Hitler, Stalin, Churchill, de Gaulle, Adenauer, Franco, Tito, Thatcher, Gorbatschow und Kohl. Dass nur eine Frau, Margaret Thatcher, dabei ist, spiegelt für ihn »die Tatsache wider, dass die Politik im 20. Jahrhundert überwiegend Männersache« gewesen sei. »Eine nichtweiße Persönlichkeit fehlt gänzlich, was daran erinnert, dass die europäische Politik im 20. Jahrhundert nicht einfach nur eine Domäne von Männern war, sondern eine von weißen Männern. Die Veränderungen in unserer Zeit«, ergänzt er, spürbar erleichtert, »sind ein Anzeichen dafür, dass weit stärkere Kräfte, als selbst der mächtigste politische Führer sie besitzt, eine langfristige soziale Transformation vorantreiben.«

Der von Kershaw gewählte Blick auf die Rolle des Einzelnen bereitet dem renommierten Historiker etwas Unbehagen. Jedenfalls unterstreicht er wiederholt, dass ihn Strukturen eigentlich mehr interessierten als Individuen. An Friedrich Schillers Satz im »Tell« – »Der Starke ist am mächtigsten allein« – zweifelt er. Bei aller Betonung der Wichtigkeit persönlicher Führungskraft als einem Faktor historischen Wandels hält er das Etikett »groß« als Zuschreibung für wenig hilfreich. Den Begriff der »Größe« solle man »in Bezug auf politische Führer ausmustern. Die historische Wirkung ist etwas anderes.«

Seinen Unwillen, den Einzelnen überzubewerten und die Wirkungsmacht von Strukturen unterzubelichten, hebt Kershaw nicht bloß im Buch, sondern auch in Begleitinterviews zu dessen Vorstellung hervor, etwa wenn er mit Blick auf die Präsidentschaft Donald Trumps betont, dass auch unter der Herrschaft dieses vermeintlich starken Mannes Amerika schwächer geworden sei. »Es ist offenbar keineswegs so, dass ein Land automatisch profitiert, wenn seine Führung rücksichtslos vorgeht.« Zudem erläutert Kershaw seine These, die Dynamik eines Krieges sei so gewaltig, dass sie auch das Handeln ansonsten mächtiger Führungsfiguren dominieren könne. »Ja, der Militärapparat gewinnt dann an Einfluss«, sagte er. »Das hat man bei Hitler und Stalin gesehen. Wahrscheinlich ist es jetzt bei Putin im Ukraine-Krieg nicht anders. Der Krieg schafft Notwendigkeiten, er bestimmt das Handeln – selbst wenn der Plan ganz anders war.«

Kershaw offenbart, wie wenig Zuneigung er – Gorbatschow ausgenommen – zu den für sein Buch ausgewählten Staatsführern hegt. Und er erklärt, dass er sich bei der Personenwahl auf »Führertypen« beschränkte, die in einer systemischen Krise an die Spitze gelangten. Das gelte zumindest für elf Porträts. Nur Helmut Kohl passe nicht in dieses Muster. Der habe zunächst eine ganz durchschnittliche Kanzlerschaft gehabt, bevor er mit dem Zusammenbruch des Sowjetblocks im Herbst 1989 mit Instinkt und Elan die Gelegenheit zur deutschen Einigung ergriffen habe. »In dem Drama, das mit der deutschen Vereinigung endete, war Gorbatschow der Wegbereiter, Bush der Unterstützer und Kohl die treibende Kraft.«

Bei der Charakterisierung der Porträtierten bleibt Kershaw zurückhaltend und relativiert eigene Befunde oft mit Fragen. Ein Beispiel aus dem elften Kapitel: »Wie immer man Gorbatschows Führung beurteilen mag, er war auf jeden Fall die überragende politische Figur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber in welchem Maß lenkte er die Ereignisse, die während seiner Herrschaft über die Sowjetunion geschahen? Genügt es, sich seine eigenen Entscheidungen anzuschauen – seine Fehler ebenso wie seine Erfolge –, um die tiefgreifende Veränderung Europas in dieser Zeit zu erklären? (…) War die Herrschaft der Sowjetunion über ihre Satellitenstaaten nicht mehr aufrechtzuerhalten? Oder ist die revolutionäre Dynamik erst durch Gorbatschows Handeln in Gang gesetzt worden? Und war seine Rolle auf der Weltbühne wirklich nur eine unvermeidliche Reaktion auf die amerikanische Überlegenheit im nuklearen Wettrüsten? Oder war seine Persönlichkeit der ausschlaggebende Faktor bei der Beendigung des Kalten Kriegs?«

Noch dramatischer als die Wirkung des Kalten Kriegs freilich war die verheerende der Weltkriege. Das offenbart sich für Kershaw auch in der Herausbildung, Profilierung und Verhärtung von Führern. »Krieg war der wichtigste Wegbereiter«, bilanziert er. »Ohne den Ersten Weltkrieg hätten Lenin – und sein Nachfolger Stalin –, Mussolini und Hitler kaum eine Chance gehabt, an die Spitze ihrer Staaten zu gelangen. Ohne den Zweiten Weltkrieg wäre es höchst unwahrscheinlich gewesen, dass Churchill, de Gaulle und Tito an die Macht gekommen wären. Krieg und seine verheerenden Folgen waren die offensichtlichsten Ursachen für die extremen Krisen, die den Aufstieg jenes Führertyps ermöglichten.« Wieder stellt Kershaw die außergewöhnlichen Zeiten nach vorne, um das Hervortreten außergewöhnlicher Führer zu erklären, »die außergewöhnliche Dinge tun – häufig schreckliche«.

Und er geht weiter: »Außerdem eröffnen Kriege eine Vielzahl von Gelegenheiten, die manchmal außergewöhnlich schicksalhafte Folgen haben. Wie hätte Lenin 1917 ohne die Bereitschaft des deutschen Militärs, ihm die Passage nach Russland zu gestatten, an die Macht kommen können?« Auch heute und ohne Krieg wirken gelegentlich solche Umstände. Frido Mann etwa, der Publizist und Enkel von Thomas Mann, sah jüngst auf der Thomas-Mann-Herbsttagung in Lübeck nicht als erster diesen Zusammenhang: »Selbst in der schon lange zunehmenden Verwahrlosung der amerikanischen Demokratie wäre ohne Putins Zutun ein pathologischer Parvenü wie Donald Trump nicht Präsident geworden.«

Trotz aller Vorsicht des Autors, die Gestaltungskraft Einzelner nicht überzubewerten, bezeichnet er als »die wirkmächtigsten Figuren ohne Frage Lenin, Stalin und Hitler«. Lenin sei der Architekt »eines völlig neuen politischen und ökonomischen Systems« gewesen, das sein eigenes Land grundstürzend veränderte und Europa lange durch einen tiefen ideologischen Graben spaltete. Stalin habe es »mit unvorstellbarer Grausamkeit« weiterentwickelt, um für die Sowjetunion »den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen und die Sowjetherrschaft über halb Europa auszudehnen«. Der Hauptverursacher des Zweiten Weltkriegs aber sei kein anderer als Hitler gewesen.

Kershaws jüngstes Werk rundet erhellend seine Europabücher »Höllensturz« (1914 – 1949) und »Achterbahn« (1950 – 2017) ab. Alle drei tragen zum besseren Verständnis von Geschichtsprozessen bei. Daran ändert auch der kleine Lektoratslapsus im neuen Buch nichts, bei dem der Reichstagsbrand 1933 von Ende Februar auf Ende Januar vorverlegt wurde, auf die Tage vor dem Machtantritt Hitlers in Deutschland.

Ian Kershaw: Der Mensch und die Macht – Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert. A. d. Engl. v. Klaus-Dieter Schmidt. DVA, 592 S., geb., 36 €.

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