Hans Modrow: Ein Jahrhundertzeuge

Elder Statesman, Vermittler, Vertrauensperson: Der Linke-Politiker Hans Modrow ist kurz nach seinem 95. Geburtstag gestorben

  • Frank Schumann
  • Lesedauer: 7 Min.
Ein durch und durch politischer Kopf bis ins hohe Alter: Hans Modrow im Frühjahr 2019
Ein durch und durch politischer Kopf bis ins hohe Alter: Hans Modrow im Frühjahr 2019

Vor genau fünf Jahren hatte die Führung der Linken zum 90. Geburtstag von Hans Modrow eingeladen. Modrow, damals Vorsitzender des Ältestenrates, ist eine politische Figur, wie es kaum eine zweite in der Partei gibt: Er hatte mit seiner nächtlichen Intervention auf dem SED-Sonderparteitag Ende 1989 maßgeblich deren Auflösung verhindert und war seither Bindeglied zur neuen Führungsgeneration, die – ob sie das nun wahrnahm oder bewusst verdrängte – auf den Schultern seiner Generation stand. Viele von den Alten waren einzig deshalb noch dabei, weil Hans noch dabei war. Entsprechend lang war die Schlange der Gratulanten im Rosa-Luxemburg-Saal des Karl-Liebknecht-Hauses.

Ganz am Ende des Defilees, die Medienvertreter waren längst gegangen, beglückwünschten die Botschafter Nord- und Südkoreas gemeinsam den Jubilar. Die wenigsten verstanden die Sensation, die präsenten Hausherren und -damen jedenfalls wohl kaum. Deshalb fragten sie auch nicht, warum ausgerechnet an diesem Ort und ausgerechnet bei Hans Modrow sich die Vertreter des geteilten Landes demonstrativ die Hände reichten. Folglich unterließen es die Häuptlinge dann auch, diesen Faden aufzunehmen und daraus politisches Kapital für die Partei zu generieren. Man ging, wie üblich, zur Tagesordnung über.

Modrow ist da anders. Vor Jahren begleitete ich ihn gelegentlich zu Egon Bahr ins Willy-Brandt-Haus. Bahr hatte die gleiche Schule in Torgau besucht wie ich; bei ihm hieß sie noch Mackensen-Gymnasium, zu meiner Zeit trug sie den Namen des Kommunisten Ernst Schneller. Am Rande einer Buchpremiere hatten wir uns darüber einmal ausgetauscht, so kam diese Verbindung zustande. Egon Bahr war einer der wichtigsten westdeutschen Entspannungspolitiker in der Zeit des Kalten Krieges gewesen, Hans Modrow SED-Funktionär – erst im ZK-Apparat und seit 1973 in Dresden. Von Zeit zu Zeit tauschten sich die mittlerweile alten Herren in der SPD-Zentrale über die Lage in ihren Parteien und darüber hinaus aus. Zu jubeln gab’s dabei wenig. Einmal kam die Sekretärin ins Zimmer, von dem wir auf die Stresemannstraße blickten, und schob ihm einen Zettel zu. So, sagte Bahr, nachdem er das Papier studiert hatte, ihr müsst jetzt gehen, die Koreaner kommen. Welche, fragte ich zurück – die aus dem Norden oder die aus dem Süden? Beide, antwortete Bahr und griente hintersinnig, wie man es von ihm kannte.

Aha, sagten wir uns, als wir im gläsernen Fahrstuhl hinabfuhren, im Backchannel laufen also bereits Gespräche der verfeindeten Brüder, und Bahr ist mal wieder dabei.

Egon Bahr verstarb im Sommer 2015, die Annäherungsgespräche liefen weiter. Drei Sommer später erhielt Hans Modrow Einladungen aus Nord- und aus Südkorea. Regierungsstellen wünschten ihn zu konsultieren, wie das mit der deutschen Wiedervereinigung gelaufen sei, schließlich war er seinerzeit Ministerpräsident der DDR. Insbesondere wollte man in beiden koreanischen Hauptstädten wissen, was in Deutschland schiefgelaufen sei, um nicht die gleichen Fehler zu begehen. Modrow hatte 1985 Nordkorea besucht und dort Parteichef Kim Il Sung getroffen. Im Süden, wo aktuell Präsident Moon Jae In eine konstruktive Annäherungspolitik betrieb, war er noch nie gewesen.

Die Chinesen, die von Modrows Mission Kenntnis hatten, baten den 90-Jährigen, vor Pjöngjang in Peking Station zu machen. Die Volksrepublik hatte er seit den 50er Jahren bereits zwölf Mal besucht. Wie sich in den Konsultationen zeigte, war Peking nun, im Jahr 2018, an der Beantwortung einiger wichtiger Fragen interessiert, die man an den Nachbarn Nordkorea augenscheinlich nicht selbst stellen wollte oder konnte. Gleichwohl unterstützte China alle konstruktiven Schritte, um die Verhältnisse auf der koreanischen Halbinsel zu normalisieren und den Frieden in der Region zu sichern.

Hans Modrow reiste weiter, führte die politischen Gespräche, flog nach Peking zurück, berichtete und bestieg dann den Flieger nach Seoul mit anderen Fragen. Pendeldiplomatie hieß das wohl, und Henry Kissinger war ihr Erfinder. Präsident Moon Jae In bedauerte, ihn nicht empfangen zu können, weil er gerade in Nordkorea bei seinem Amtskollegen Kim Jong Un zu Besuch war. Die beiden Staatschefs trafen sich bereits zum dritten Mal. Der Minister für Wiedervereinigung Cho Myoung Gyon, der Modrow eingeladen hatte, begleitete seinen Chef in den Norden. So konferierte Modrow mit dem Vize-Außenminister, wobei er feststellen musste, dass die Haltung des südkoreanischen Präsidenten zur Verständigung mit Nordkorea und zur Distanzierung von den USA nicht von allen in der Seouler Administration geteilt wurde. Das kostete den Menschenrechtsanwalt Moon 2022 möglicherweise das Amt. Inzwischen herrscht wieder Eiszeit auf der koreanischen Halbinsel …

Nun, Herr Modrow, wann wirft Kim die Atombombe, fragte ein besorgter westdeutscher Filmregisseur nach dem Studium der deutschen Presse. Er hatte sich mit uns nach der Reise in einem Restaurant am Strausberger Platz in Berlin verabredet. Nie, sagte Modrow gelassen, Kim sei erstens kein Hasardeur, und zweitens verlöre dann die Drohung ihre Wirkung. Sie sei der einzige Wert dieser Waffe.

Der bescheidene Hans Modrow wurde als Elder Statesman im Ausland geachtet, man schätzte seine Erfahrung, seinen Rat, ehrte ihn mit Einladungen und Orden. Seine zahlreichen Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Aber wie hieß es schon in der Bibel? Der Prophet gilt nichts im eigenen Land. Das meiste, was er tat, blieb unbeachtet und ungenutzt von seiner Partei, die ihm ein Kämmerchen unter dem Dach des Karl-Liebknecht-Hauses überlassen hatte. Regelmäßig traf sich Modrow mit Botschaftern wie auch mit amerikanischen Austauschstudenten der Universität Bremen, die ihn zur deutschen und zur DDR-Geschichte befragten, er sprach mit auswärtigen Historikern und Korrespondenten. Und er reiste, so lange es ging.

Im April 2019 begleitete ich ihn an die Eidgenössische Technische Hochschule nach Zürich, wo er vor einem überfülltem Audimax (in einem nicht minder vollen zweiten Saal verfolgten weitere 200 Zuhörer die Übertragung) zum Thema »30 Jahre nach dem Fall der Mauer – Europa damals und heute« sprach. Einstein war hier Dozent gewesen, Churchill hielt nach dem Krieg eine wichtige Rede, die Außenminister Armeniens und der Türkei unterzeichneten im Hause die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Dem feierlichen Akt 2008 wohnten die Außenminister Russlands und der USA, Lawrow und Clinton, bei. In diesen Mauern wurde also nicht nur Wissenschaftsgeschichte geschrieben.

Anderntags gab es im sauteuren Hotel ein ausführliches Gespräch mit Nationalräten, wie die Abgeordneten des Schweizer Parlaments heißen. Sie zeigten sich außerordentlich kundig über die Lage in Ostdeutschland und fragen dezidiert nach. Mich allerdings baten sie, über ihr Treffen mit dem Altkommunisten Modrow nichts in der deutschen Presse mitzuteilen: Es standen Wahlen an. Die Offenheit hatte Grenzen.

Wir zogen anschließend durch die verwinkelten Straßen und Gässchen der Zürcher Altstadt, es ging hinab und hinauf und der Atem bisweilen kurz. Wir schauten in der Spiegelgasse an Lenins temporärem Wohnsitz vorbei und landeten schließlich im Fraumünster unten an der Limmat. Im Chorraum aus dem 13. Jahrhundert verweilten wir geraume Zeit und bestaunten die farbigen Glasfenster von Marc Chagall, schmal und hoch aufragend, ein Feuerwerk für die Sinne und Vexierbilder zugleich. Mehr für den Unkundigen als für den Bibelkenner. Dafür müsse er sich nicht entschuldigen, meinte ich auf Modrows selbstkritischen Einwand, nicht jeder könne Pastorensohn sein.

Hans kam aus einem pommerschen Dorf, war Kind einfacher Leute. Mit 17 holten ihn die Nazis zum Volkssturm und, ohne einen Schuss abgegeben zu haben, kam er dafür vier Jahre lang in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Danach ins politische Geschirr. Keine Zeit, um Kunstgeschichte zu studieren. Aber er bekannte sich, anders als andere, ehrlich zu seinen Wissenslücken. Also noch rüber zum Großmünster und Giacomettis Kirchenfenster bestaunt.

Hans Modrow – inzwischen bar jeglichen Amtes – begeht an diesem Freitag seinen 95. Geburtstag. In ganz kleinem Kreis. Eine Gratulationscour wie vor fünf Jahren ist aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich. Er hat darum gebeten, die ihm zugedachten Freundlichkeiten als Geldspende für eine Schule in Kuba zu verwenden. Kuba, China, Korea, Russland, Polen, Tschechien, Japan … Viele Völker, denen er nahesteht. Aus unterschiedlichen Gründen, aber stets solidarisch und mit politischer Klarheit. Kriege, Krisen und Konflikte, auch die mit seiner Partei, konnten ihn nie daran hindern.

Am Freitagabend ist Hans Modrow nach langer schwerer Erkrankung in Berlin im Alter von 95 Jahren gestorben.

Frank Schumann ist Journalist und Verleger. In seiner Edition Ost erschien unter anderem Hans Modrows Buch »Brückenbauer. Als sich Deutsche und Chinesen nahe kamen«.

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