Messerangriffe: Anfragen der AfD laufen ins Leere

Dass vor allem Nichtdeutsche mit Messern Straftaten begehen, lässt sich nicht belegen

Ortsschild von Illerkirchberg, wo ein tödlicher Messerangriff im Dezember für Schlagzeilen gesorgt hatte.
Ortsschild von Illerkirchberg, wo ein tödlicher Messerangriff im Dezember für Schlagzeilen gesorgt hatte.

Seit gut zwei Jahren will die AfD in Bund und Ländern mit parlamentarischen Anfragen nachweisen, dass die Zahl der Delikte mit dem Tatmittel Messer zunimmt und die Taten vorwiegend von Nichtdeutschen begangen werden. Ein Sprecher der Deutschen Polizeigewerkschaft behauptet dies als Tatsache, ebenso der als »Messerexperte« gern zitierte Psychologe Ahmad Mansour. Er sieht im Tragen von Messern das Anzeichen einer Jugendkultur, die von »patriarchalischen Erziehungsmethoden« in den Herkunftsländern vieler Migranten begünstigt werde.

Ein Bericht von »Bild am Sonntag« scheint dies zu bestätigen. Am Wochenende meldete die Zeitung unter Berufung auf die Bundespolizei, dass sich die Zahl der Messerangriffe in Zügen und Bahnhöfen 2022 im Vergleich zum Vorjahr auf 236 verdoppelt habe. Insgesamt betrage der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger bei schweren Gewalttaten laut Bundespolizei 55,5 Prozent, so die Zeitung.

Ob Personen bei Gewaltdelikten Messer einsetzen, erfasst die Bundespolizei seit 2018. Bei den nun veröffentlichten Zahlen handelt es sich um die sogenannte Eingangsstatistik, die jeden Tatverdacht verzeichnet. Anders verfährt etwa das Bundeskriminalamt (BKA), in dessen jährlicher polizeilicher Kriminalitätsstatistik (PKS) nur Straftaten gezählt werden, die als »ausermittelt« gelten.

Deshalb sei die Meldung von »Bild am Sonntag« mit Vorsicht zu genießen, warnt der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes. In rund 20 Prozent der Fälle erwiesen sich die Eingangsmitteilungen als unvollständig oder sogar falsch, so Feltes zu »nd«. Dies hätten verschiedene Studien belegt.

Fraglich ist deshalb, wie die Einstufung der Angriffe mit Messern erfolgt ist. So könnten Beamte etwa Angriffe als versuchten Totschlag betrachtet haben, obwohl es sich tatsächlich um eine versuchte Körperverletzung handelte oder das Messer bei einer Gewalttat lediglich mitgeführt wurde. Zudem könnten bei gemeinschaftlich begangenen Messerangriffen auch die unbewaffneten Tatverdächtigen mitgezählt worden sein. 

Auch die deutsche Sektion von Amnesty International mahnt zur Zurückhaltung. »Zum einen ist nicht klar, ob es sich hier um eine abschließende Auswertung der Bundespolizei handelt. Zum anderen werden hier absolute Zahlen genannt, die in ein Verhältnis zu den wieder gestiegenen Fahrgastzahlen im Verlauf der Corona-Pandemie gesehen werden müssen«, sagt eine Sprecherin zu »nd«.

Wie derartige Zählungen selbst bei der Polizei unterschiedlich ausfallen, belegten zuletzt die Vorgänge der Silvesternacht in Berlin. Einige Zeitungen hatten schnell über ungleich viele Straftaten von Menschen mit Migrationshintergrund berichtet, später mussten die Angaben deutlich korrigiert werden. Bis dahin hatten manche Medien aber längst das Bild einer »Silvester-Schande« (»BILD«) konstruiert. Ähnlich unseriös recherchierte die Tageszeitung »Welt«, die für das Jahr 2020 »fast 20 000 Messerangriffe« gezählt haben will, diese Daten der Landespolizeien aber aus nicht vergleichbaren Tabellen sammelte.

Feltes verweist auch auf den »Statistikeffekt«, wonach die Polizei – getrieben von der Erwartungshaltung durch Politiker und Medien – bei bestimmten Personengruppen oder Straftaten genauer hinsieht und deshalb »gern etwas mehr als üblich erfasst«. Auch das Bundesinnenministerium kennt derartige Verzerrungen, die etwa »Änderungen im Anzeigeverhalten der Bevölkerung oder in der Verfolgungsintensität« bedeuten können. 

Weitere Schieflagen können sich ergeben, wenn die Polizei sogenannte Schwerpunktermittlungen durchführt. So ist in verschiedenen Bundesländern das Mitführen von Messern und anderen gefährlichen Gegenständen in der Bahn komplett oder zeitweise untersagt. Weil die Polizei deshalb gezielt nach derartigen Werkzeugen sucht, werden sie auch häufiger gefunden. »Bei der allgemeinen Kriminalität spielt auch eine ungleiche Stadt-/Land-Verteilung eine erhebliche Rolle, da in den großen Städten ein höherer Teil an Nichtdeutschen zu finden ist«, ergänzt Amnesty International.

Ab 2023 will auch das BKA die bundesweite Datenqualität derart vereinheitlicht haben, dass »valide« Rückschlüsse auf die Anzahl von Messerangriffen möglich sind. Dabei werde auch wie bisher durch die Bundespolizei die Staatsangehörigkeit der Tatverdächtigen erfasst. »Ob es sich dabei um Zuwanderer handelt«, solle aber nicht überprüft werden, schreibt das Innenministerium in der Antwort auf eine Anfrage der AfD.

Update: Inzwischen hat auch die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie eine AfD-Anfrage zum Thema »Zunahme von Rohheitsdelikten und Messerangriffen durch Kinder und Jugendliche« beantwortet. Darin fragt die Fraktion nach Erklärungen für den Anstieg der Jugendkriminalität. Eine abschließende Antwort darauf sei nicht möglich, schreibt der Senat, die möglichen Faktoren »bedingen sich gegenseitig, unterliegen stets Veränderungen und können teilweise nur im Zusammenspiel dargestellt werden«. 

Einer der Aspekte sei »die pandemische Lage und die daraus folgenden Einschränkungen«, dies habe für Kinder und Jugendliche eine Reihe von Belastungen mit sich gebracht. Belegt seien etwa übermäßiger Medienkonsum und Bewegungsmangel. Durch Schul- und Kitaschließungen habe sich die Alltagsstruktur für Kinder und Jugendliche sowie deren Familien erheblich verändert. 

Mit den pandemiebedingten Lockerungen strömten nun auch die Kinder und Jugendlichen »wieder vermehrt in den öffentlichen Raum«. Bei einigen jungen Menschen entlade sich das vorher »Eingesperrtsein« im Verletzen und Ausreizen gesellschaftlicher, gesetzlicher Normen sowie durch Grenzüberschreitungen, die vorher nicht möglich waren. Dies entlade sich womöglich »in Wut und Gewalt, insbesondere bei denen, die schon marginalisiert sind«, so der Senat.

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