Keine Hilfe bei Übergriffen

Obdachlosenfeindliche Gewalttaten im öffentlichen Raum oder in Unterkünften bleiben oft unsichtbar

  • Lola Zeller
  • Lesedauer: 7 Min.
Im Zelt sind obdachlose Menschen zumindest ein wenig vor dem Wetter geschützt, Angriffe erleben sie trotzdem.
Im Zelt sind obdachlose Menschen zumindest ein wenig vor dem Wetter geschützt, Angriffe erleben sie trotzdem.

Es ist stürmisch in der Hauptstadt. Der Wind reißt an den aufgebauten Pavillons und wirbelt große Feuerfunken in die Luft, es regnet. Im Eingang zum Roten Rathaus stehen zwei Sicherheitskräfte und versuchen sich und ihre Zigaretten hinter den Steinmauern vor den Wetterlaunen zu schützen. Auf dem Vorplatz trotzen derweil etwa 50 Aktivist*innen dem Sturm, sichern mit geeinten Kräften ihre Unterstände und wärmen sich in wechselnden Runden an einer lodernden Feuertonne auf. Die jährliche Mahnwache gegen Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen kämpft am Dienstag am wichtigsten symbolischen Ort der Stadt gegen die Unsichtbarkeit an, unter der jene leiden, die kein warmes Zuhause haben und sich stattdessen auch in der kältesten Zeit des Jahres einen behelfsmäßigen Unterschlupf im öffentlichen Raum Berlins suchen müssen.

»Die Zustände in den Unterkünften sind einfach zu schlimm«, sagt Ralf-Axel Simon zu »nd«. Er ist in der Selbstvertretung wohnungsloser und ehemals wohnungsloser Menschen aktiv, die sich bundesweit aus der Perspektive der eigenen Erfahrung für die Rechte wohnungsloser Menschen einsetzen. Das selbst gesteckte Ziel des rot-grün-roten Senats, die Obdachlosigkeit in Berlin bis 2030 zu beenden, sei »Quatsch«, sagt der Aktivist. »Das Wohnungsproblem fängt doch gerade erst an. Das glauben die doch selbst nicht.«

Vor dem Roten Rathaus fordern die Selbstvertreter*innen und Unterstützer*innen ein Handeln der Landespolitik – vor allem Wohnungen für alle, die aktuell keine haben. Denn eine Wohnung bedeutet nicht nur, im Trockenen und Warmen zu sitzen, statt bei Sturm und Regen ausharren zu müssen, sondern auch Schutz vor Gewalt und Diskriminierung. »Das ist wirklich eines der Hauptprobleme auf der Straße«, sagt Simon.

Eine kürzlich durchgeführte Befragung von über 200 obdachlosen Menschen hat ergeben, dass mehr als 60 Prozent von ihnen Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen erlebt haben. Das schließt auch Vorfälle in den Wohnungslosen- und Kältehilfeunterkünften ein. Einige gaben dies dann auch als Grund an, solche Unterkünfte zu meiden. »Seit drei Jahren wird uns vom Senat eine Beschwerdestelle versprochen, aber nicht einmal das bekommen sie hin. Dabei ist das ja doch wohl das Mindeste«, sagt Simon sichtlich empört.

Um sich nach Veröffentlichung des Ergebnisberichts der Umfrage eingehender mit obdachlosenfeindlicher Gewalt und Diskriminierung zu beschäftigen, hatte das Projekt »Zeit der Solidarität« am Donnerstag zu einer Podiumsdiskussion mit selbst betroffenen und nicht betroffenenen Expert*innen eingeladen. In der Nachbarschaftsetage eines ehemals besetzten Hauses in Wedding spricht auch Koray, ein queerer Wohnungsloser mit Mirgationsgeschichte, über seine eigenen Ausschlusserfahrungen. Dabei zeigt sich, dass Obdachlosenfeindlichkeit zusammen mit weiteren Diskriminierungserfahrungen besonders verheerende Auswirkungen haben kann.

»Wenn du jung und obdachlos bist, wirst du nicht gesehen«, sagt Koray. Er ist 22 Jahre alt und vor drei Jahren aus Griechenland nach Deutschland gekommen. Seinen Nachnamen möchte er nicht nennen. »Ich habe überall Diskriminierung erlebt, in der Bahn, im Supermarkt, einfach überall«, sagt er. Koray erzählt, wie schwer es ist, wenn man jung ist, in ein neues Land kommt und nicht weiß, wohin man sich mit Problemen wenden kann. »Du suchst jeden Tag nach Hilfe, teilweise schämst du dich auch, wenn du nach Geld fragen musst. Und am Ende des Tages bist du froh, wenn du in einem Zelt schlafen kannst, dann hast du wenigstens ein bisschen Schutz.« Bestenfalls hat Koray dann einen Platz gefunden, der nicht von außen von Passant*innen einzusehen ist. »Sonst wirst du grundlos angezündet«, sagt er.

Koray erlebt zusätzlich zu Rassismus und Obdachlosenfeindlichkeit auch Queerfeindlichkeit in seinem Alltag. »Gerade wenn du queer und obdachlos aussiehst, dann wirst du so sehr beleidigt«, sagt er. Auch für Koray bieten Notunterkünfte keinen Schutz. Er erzählt von einem Rauswurf aus einer Unterkunft, weil Mitbewohner*innen ein regenbogenfarbenes Armband an seinem Arm entdeckt hatten. »Ich habe doch das Recht, ein Regenbogenarmband zu tragen. Also man darf doch tragen, was man will, oder?«

Doch selbst wenn Koray gewollt hätte, wäre dies kaum zu verbergen gewesen. In Notunterkünften gibt es keine privaten Waschmöglichkeiten, und so fiel das Armband in der Gemeinschaftsdusche auf. Daraufhin sei es erst zu verbalen und schließlich auch zu körperlichen Angriffen seiner Mitbewohner*innen gekommen. Koray verteidigte sich, der Konflikt eskalierte. Schließlich war er es, der von der Unterkunftsleitung zum Auszug aufgefordert wurde. »Ich musste raus, weil die anderen mehr waren«, sagt Koray. Unterstützung von der Leitung habe er keine bekommen. »Klar habe ich mir Hilfe gewünscht, aber ich wusste nicht, wohin.«

Wie Ralf-Axel Simon bereits bei der Mahnwache beklagt, fehlt eine Beschwerdestelle in der Berliner Verwaltung, um solche Vorfälle aufzuarbeiten. Eine Möglichkeit, sich dennoch zu beschweren, bieten die Berliner Register. In jedem Bezirk gibt es diese niedrigschwellige Anlaufstelle, um rechte und diskriminierende Übergriffe zu melden – dazu gehören auch rassistische, queer- und obdachlosenfeindliche Taten. »Seit 2014 haben wir 113 Vorfälle gegen obdachlose Menschen erfasst«, sagt Kati Becker, Koordinatorin der Berliner Register. Die Zahlen hält Becker bei Weitem nicht für repräsentativ. »Obdachlosenfeindlichkeit macht einen sehr kleinen Teil der bei uns gemeldeten Fälle aus. Das heißt nicht, dass es diese Fälle nicht gibt, sondern dass wir nicht davon erfahren«, sagt Becker.

Gerade Feindlichkeit gegen Obdachlose gehe oft im Stadtalltag unter. »Damit ein Fall bei uns ankommt, müssen es ja erst mal Menschen mitbekommen, die wissen, dass sie das bei uns melden können und dass es auch was bringt, diesen Vorfall zu melden«, sagt Becker. Ziel der Register ist es, möglichst viele dieser Ereignisse zu dokumentieren, um das strukturelle Problem sichtbar zu machen und politische Gegenmaßnahmen zu erwirken. Becker sagt: »Es braucht Menschen, die sich in der Öffentlichkeit für obdachlose Menschen einsetzen.«

Der Mangel an gemeldeten Übergriffen spiegelt sich auch in den polizeilichen Statistiken. 455 Gewalttaten gegen obdachlose Menschen landeten in der polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 2021. Zum Stichtag 31. Januar 2022 waren laut Wohnungslosenstatistik 25.975 Menschen in Wohnungslosenunterkünften untergebracht. Schätzungen zufolge sind in Berlin etwa 6000 Menschen obdachlos und nicht in Unterkünften untergebracht; in der sogenannten Nacht der Solidarität wurden im Januar 2020 rund 2000 Menschen auf der Straße gezählt.

Dass die Polizeistatistik insgesamt so wenige Fälle obdachlosenfeindlicher Gewalt und Diskriminierung ausweist, ist kaum verwunderlich, sind es doch immer wieder Polizist*innen selbst, die Betroffene unter Gewaltanwendung aus dem öffentlichen Raum der Stadt vertreiben. »Die Polizei ist auch Täter, deswegen gehen viele Menschen mit ihren Gewalterfahrungen nicht dorthin«, sagt Kati Becker. Umso wichtiger sind unabhängige Anlaufstellen wie Register, um die Fälle aufzunehmen.

Als »Expertin in eigener Sache« spricht auf dem Podium in Wedding auch Dietlind Schmidt. Sie betont die strukturelle Gewalt gegen Obdachlose. »Obdachlosigkeit ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, sagt Schmidt. Menschenrechte gebe es nur auf dem Papier, in der Realität seien diese unmöglich einzuklagen. »Es gibt eigentlich ein Recht auf Wohnen oder auch auf Gesundheitsversorgung, aber bei allem wirst du gezwungen, Geld dafür zu bezahlen.«

Der Zwang zur Erwerbsarbeit führe dazu, dass niemand selbstbestimmt leben, einer selbst gewählten und erfüllenden Tätigkeit nachgehen könne. Wolle man etwas an der Situation obdachloser Menschen ändern, müsse die gesamte Gesellschaft solidarisch werden, um die Menschenrechte auch tatsächlich durchzusetzen. »Das funktioniert nur in der Breite, nur wenn alle das Recht auf Wohnen einfordern, auch wenn sie selbst eine Wohnung haben«, sagt Schmidt.

Sie selbst habe schon alle möglichen Formen von Obdachlosigkeit durchgemacht, erzählt sie nach der Podiumsdiskussion im Gespräch mit »nd«. »Ich bin privat untergekommen, war in der Kältehilfe, habe auf der Straße übernachtet.« Aktuell wechsele sie von Unterkunft zu Unterkunft, weil es in diesen allzu oft nicht funktioniere: »Die Standards sind ganz schlimm, und rechtliche Beschwerden sind kaum möglich für Menschen, die ganz unten sind, die nichts haben.«

Die Notunterkünfte werden zumeist im Rahmen des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes betrieben. Dabei dreht sich alles um Unterbringung. Oder eben um die Verbannung aus dem öffentlichen Raum. »Da zeigt sich schon, dass es nur um Kontrolle geht«, meint Schmidt. Die Unterkünfte dienten in erster Linie dazu, Obdachlose »wegzusperren«. »Das ist die Struktur des Staates. Diese Struktur zu ändern, das geht nur über Zwischenmenschlichkeit.«

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