Der Katastrophe ausgeliefert

Olivier David über eine Broschüre der Bundesregierung für den Katastrophenfall

  • Olivier David
  • Lesedauer: 4 Min.

Kürzlich war ich beim Bezirksamt, um meinen neuen Personalausweis abzuholen, nachdem mir mein Portemonnaie geklaut wurde. Ich wartete gerade darauf, dass meine Wartenummer angezeigt wird, da fiel mein Blick auf eine Broschüre in knalligem Orange. Darauf die Überschrift »Katastrophenalarm – Ratgeber für Notfallvorsorge und richtiges Handeln in Notsituationen«. Weil meine Nummer noch nicht angezeigt wurde, ging ich zum Aufsteller, fischte eine der Broschüren heraus und begann darin zu blättern.

Gleich der erste Punkt der Broschüre behandelt die Notfallversorgung. Klar, dachte ich, in Zeiten multipler Krisen müssen Bürgerinnen und Bürger vorgewarnt sein. Dann zu Beginn des Kapitels der Hinweis: »Mit einem Vorrat an Lebensmitteln und Getränken für zehn Tage sind sie hierfür gerüstet.« Das »hierfür« bezog sich auf ein paar exemplarische Vorschläge für Katastrophen wie Lawinen, Hochwasser, Schneefall oder einen Stromausfall.

Olivier David
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien sein erstes Buch »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen reflektiert. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. David studiert in Hildesheim literarisches Schreiben. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.

Noch etwas kam mir in den Sinn, als ich auf die Checkliste in der Mitte des Heftes stieß. Wie sollen Armutsbetroffene sich das alles leisten? Für zehn Tage, so die Broschüre, sollten pro Person 20 Liter Flüssigkeit zur Verfügung stehen. Bei einem vierköpfigen Haushalt sind das 80 Liter. 80 Liter kosten im Supermarkt vorsichtig kalkuliert vierzig Euro. Dann: 3,5 Kilogramm Getreide und Brot, vier Kilo Hülsenfrüchte, 2,5 Kilogramm Obst & Nüsse, 2,6 Kilogramm Milch & Milchprodukte, 1,5 Kilo Fisch, Fleisch und Eier, Öle, Zucker, Jodsalz, Fertigsuppen, getrocknete Tortellini und so weiter und so fort.

Auf der Regierungsseite ernaehrungsvorsorge.de gibt es sogar einen Rechner, der für jeden Menschen, je nach Größe des Haushaltes, den Bedarf kalkuliert. Wohlweislich wurde auf jegliche Einschätzung darüber, wie viel der Kauf der empfohlenen Mengen an Lebensmitteln kosten würde, verzichtet. Neben den Lebensmitteln finden sich in der Checkliste allerhand nützliche Dinge für den Ernstfall wie zum Beispiel Schutzkleidung, Reservebatterien, Feuerlöscher, Medikamente, Atemschutzmasken, Campingkocher und Schlafsäcke.

Bevor ich sie hier weiter mit diesen Aufzählungen langweile, kommen wir an des Pudels Kern: Wer soll sich das leisten können, wenn dreißig Prozent der Menschen in diesem Land über null Ersparnisse verfügen? Und was folgt daraus? Ist das die sozialdarwinistische Version von »Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied«? Was passiert nun bei einer Katastrophe, gerade wenn man bedenkt, dass wir ein Zeitalter mehrfacher Krisen erleben?

Man muss nicht schwarz sehen, um auf die Losung zu kommen, dass wir – und mit dem »wir« sind die unteren dreißig Prozent gemeint – dann vielleicht sterben werden. Und zwar nicht so, wie wir alle einmal sterben, sondern früher und brutaler als Wohlhabende. Das klingt pathetisch, dabei ist es die Realität: Laut einer Studie sterben die ärmsten zehn Prozent der Männer mehr als zehn Jahre vor den reichsten zehn Prozent.

In »Wer hat meinen Vater umgebracht«, schreibt der französische Schriftsteller Édouard Louis: »Begreift man Politik als die Regierung von Lebewesen über andere Lebewesen, dann besteht Politik in der Abgrenzung jener Bevölkerungsanteile, die ein komfortables, geschütztes, begünstigtes Leben genießen, vor solchen, die Tod, Verfolgung, Mord ausgesetzt sind.« Mit »jenen Bevölkerungsanteilen« meint Louis neben Menschen, die von Rassismus, Homo- und Transphobie betroffen sind, auch arme Menschen.

Kürzlich habe ich auf Twitter einen Auszug eines Briefes gesehen, in dem eine Armutsbetroffene, die auf Unterhaltszahlungen vom Jobcenter wartete, von einem Behördenmitarbeiter gefragt wurde, warum sie vor dem 2. Kind nicht verhütet hatte. In einem Land, in dem Armutsbetroffene noch vor 80 Jahren mit einem schwarzen Winkel (sogenannte Asoziale) in Konzentrationslager deportiert wurden, verwundert eine derartige Geisteshaltung nicht. Genauso wenig wundert es, dass es offensichtlich keine Idee dafür gibt, wie arme Menschen in Katastrophenzeiten überleben sollen. Und das ist doch die eigentliche Katastrophe.

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