Libertalia – eine Legende?

David Graeber über die Piraten als Aufklärer und Anarchisten

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 3 Min.

Bis zu seinem frühen Tod im September 2020 war der US-amerikanische Anthropologe David Graeber so etwas wie ein anarchistischer Chefdenker. Als Professor für Kulturanthropologie lehrte Graeber zunächst in Yale, später in London. Er war einer der Wortführer der Occupy Wall Street-Bewegung und wurde populär durch seine anstiftenden Schriften. Nun ist einer seiner letzten Texte ins Deutsche übertragen worden. Wie gewohnt stellt Graeber die vorherrschende Geschichtsschreibung auf den Kopf.

Waren Piraten tatsächlich nicht nur Helden der Freiheit, sondern sogar Vorreiter der europäischen Aufklärung? Anarchisten gar, Rebellen mit eigener Kultur? Haben wir nicht ein falsches Bild von ihnen als finstere Gestalten mit Augenklappe, Holzbein und Krummsäbel?

Ja, eben, genau darum geht es: Vorurteile und eingefrorene Gedanken aufzuweichen. Graeber selbst bezeichnete seine Schrift als »kleines Experiment in Sachen Geschichtsschreibung«, als »gezielte Provokation der gegenwärtigen Geschichtsschreibung«. Er sieht die Piraten als »Vorreiter bei der Entwicklung neuer Formen demokratischer Regierungsführung«. Als Argument führt er an, dass die Piratenschiffe nach außen hin zwar rabiat und Furcht einflößend erschienen, an Deck und unter Bord aber Versammlungen mit Abstimmungen aller Mannschaften stattfanden. Zudem konstatiert er, dass deren überlieferte »Brutalität für ihre Zeit keineswegs ungewöhnlich, ihre demokratischen Praktiken aber nahezu ohne Einschränkung beispiellos waren«. Letztlich sei es den Piraten um Umverteilung gegangen: den Reichen und Mächtigen etwas von dem abzujagen, was jene ihren Völkern abgeluchst hatten. Ende des 17. Jahrhunderts beispielsweise haben Piraten schwer bewaffnete Pilgerschiffe des Großmoguls auf dem Weg nach Mekka gekapert und ausgeplündert.

In drei Teile gliederte Graeber sein Essay. Die Überschrift zum dritten Kapitel lautet in der englischen Ausgabe »Pirate Enlightenment«, in der französischen: »Les Pirates des Lumières« – also Erleuchtung, Aufklärung. Graeber stellt Libertalia vor, die utopische, egalitäre Piratenrepublik auf Madagaskar, die vom Schriftsteller Daniel Defoe, dem Erfinder von Robinson Crusoe, bekannt gemacht worden ist. Bis heute weiß allerdings niemand, wie viel an Libertalia Legende oder Wahrheit, Fiktion oder Fantasie ist.

Graeber orientierte sich vor allem an einer Schrift, die bis heute unveröffentlicht ist – einer Erzählung von 1806, in der ein französischer Autor namens Nicolas Mayeur seine vielen, in den Jahren 1762 bis 1767 geführten Gespräche mit madagassischen Einheimischen gesammelt hat. Graeber adelt diese als »erste realistische ethnografische Berichte von Madagaskar«. Hier seien schon alternative Lebensformen vorgelebt worden: radikale Demokratie, keinerlei Zwangsgemeinschaften, sondern basisdemokratische Beratungen gemäß des Gleichheitsgrundsatzes und auch Beteiligung von Frauen an politischen Versammlungen – »ein Gesellschaftsvertrag im klassischen Sinn«, urteilt Graeber, der zudem gewaltlos geschlossen worden sei.

Es findet sich natürlich viel Spekulation in Graebers Argumentationsweise und viel ungesichertes Wissen. »Es sieht ganz danach aus«, heißt es einmal. Oder: »Es lässt sich nur schwer irgendetwas mit Gewissheit sagen«, ein anderes Mal. Eulenspiegelei? Nein, sein Buch über die Piraten ist aufregend und anregend, ruft Zweifel hervor und fordert zum Nachdenken auf. Typisch für Graeber: Das Lesepublikum wird auf Abwege geführt, damit es auf neue Gedanken stößt und soll sich sein eigenes Urteil bilden. Wie in allen Büchern von ihm wird die Sichtweise von Herrschenden infrage gestellt und eine andere Welt in den Blick genommen.

David Graeber war unbestritten der kreativste Fantast seiner Zunft. Ein Jammer, dass er nur 59 Jahre alt wurde, im September 2020 gestorben ist.

David Graeber: Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit. A.d.Engl. v. Werner Roller. Klett-Cotta, 256 S., geb., 24 €.

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